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Liebe und Hass. Filmstil aus „La Roue“.

© FSPJ 2019

Nach Jahrzehnten rekonstruiert: Stummfilmklassiker „La Roue“ erlebt beim Musikfest eine Auferstehung

Ein Werk von zeitloser Kraft: Das mehrstündige Stummfilm-Epos „La Roue“ von 1923 wurde rekonstruiert. Beim Musikfest wird es mit Orchester aufgeführt.

Die Räder des Schicksals drehen sich mit schnaufender Kraft, die Elemente sind in Aufruhr. Feuer, Wasser, Luft und Erde toben in den Kesseln eines rußschwarzen Ungetüms, das voranstürmt in eine neue Zeit. Die Eisenbahn ist ein Sinnbild für Beschleunigung und Fortschritt und wirkt zugleich wie das Relikt einer vulkanischen Vergangenheit. Der französische Regisseur Abel Gance hat sie zum Motor seines 1923 uraufgeführten monumentalen Stummfilms „La Roue“ („Das Rad“) bestimmt.

„Mein Freund Arthur Honegger und ich schwärmten beide für Lokomotiven, waren von den Zügen und ihrer Kraft fasziniert“, schreibt der 1981 verstorbene Gance in seinen Memoiren. „Ich sagte mir: Wenn du ein inneres Drama findest, das der Schönheit des äußeren Dramas der Lokomotiven, der Maschinen entspricht, und wenn ich eine Verbindung zwischen den beiden herstelle, könnte mir etwas Originelles und Kraftvolles gelingen.“

Schließlich entscheidet sich Gance, das antike Ödipus-Drama auf die Schiene zu setzen, erweitert es durch Anspielungen auf den Mythos von Sisyphos und schafft ein insgesamt achteinhalb Stunden langes Kino-Epos. Seine avancierte Bildsprache mit Überblendungen, Kamerafahrten und Splitscreens prägt das junge Medium, seine Pioniertat beeinflusst Regisseure wie Sergej Eisenstein.

Im Rahmen des Musikfests Berlin erlebt „La Roue“ nun seine Auferstehung. Gelingen konnte sie nur, weil die Liste jener Musikstücke überlebte, die zur Premiere im Pariser Gaumont Palace die laufenden Bilder begleitete. Es sind 117 Nummern von nicht weniger als 56 Komponisten. Nach jahrelanger Detektivarbeit wurde eine siebenstündige Fassung rekonstruiert. Der Komponist Bernd Thewes brachte Bilder und Musik wieder sekundengenau zusammen, die Weltpremiere der von Arte, ZDF und Deutschlandradio produzierten Neufassung wird vom Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB) unter der Leitung von Frank Strobel live im Konzerthaus aufgeführt.

Der Dirigent, der im Münchner Kino seiner Eltern aufwuchs, setzt sich leidenschaftlich für die Rettung des Stummfilmerbes ein. Für Strobel handelt es sich bei „La Roue“ um ein Gesamtkunstwerk wie Wagners „Ring des Nibelungen“, um ein Werk von zeitloser Kraft.

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Am Anfang der Vierecksgeschichte um Liebe, Verrat und Hass steht ein Unglück: Zwei Züge kollidieren, die Wucht zerreißt Waggons und Menschenleben. Aus den Trümmern rettet der Lokführer Sisif ein kleines Mädchen, das von nun an zusammen mit seinem Sohn aufwächst und nichts von seiner Herkunft weiß. Als junge Frau entfacht Norma bei Vater und Sohn heftige Liebesglut, doch die vermeintliche Schwester und Tochter darf man nicht begehren. Um den ödipalen Drang zu unterbinden, wird Norma mit einem ungeliebten Mann verheiratet, doch das Rad des Schicksals lässt sich nicht aufhalten. In den verschneiten Alpen kommt es zu einem Showdown von antiken Ausmaßen.

Immer dabei: die Musik, die der Komponist Arthur Honegger gemeinsam mit dem Kinokapellmeister Paul Fosse zusammengestellt hat und die weit mehr ist als eine bloße Addition von Nummern. „Die Musik liefert einen eigenständigen Kommentar zu den Bildern“, erläutert Strobel. „Dabei wurde auf die französischen Hits aus Spätromantik, Impressionismus und frühem Expressionismus explizit verzichtet. Die Musik sollte nicht der Illustration dienen, sondern der Einheit dieses sehr opernhaft gedachten Films.“

[Weltpremiere 14. 9., Konzerthaus, Tickets 19 – 39 Euro. Weitere Infos unter www.berlinerfestspiele.de. TV-Ausstrahlung bei Arte zum 130. Geburtstag von Abel Gance am 28. 10. und 4. 11.]

Die Dirigierpartitur der längsten Filmmusik der Kinogeschichte wiegt 18,6 Kilo, Strobel transportiert sie rückenschonend im Rollkoffer. Die Aufführung im Konzerthaus umfasst Prolog und vier Epochen (wie Gance die einzelnen Akte nannte), sie dauert von 14 bis 23 Uhr. Die Musikerinnen und Musiker des RSB spielen nach einem ausgeklügelten Rotationssystem. „Es sind aber auch Musiker zu mir gekommen, die unbedingt alle Teile spielen wollen“, sagt Strobel schmunzelnd.

Oft schon hat er mit dem RSB Filmprojekte realisiert wie zum Musikfest 2018 die Aufführung von „J'accuse“. Abel Gance drehte diesen experimentellen Antikriegsfilm 1918, er verwendete erstmals Dokumentarmaterial und ließ französische Soldaten auf Fronturlaub auftreten, die kurz danach auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs fielen. Welche Musik zu „J'accuse“ gespielt wurde, ist nicht überliefert, der Komponist Philippe Schoeller schuf eine Neuvertonung. Bei „La Roue“ dagegen kann man dem Original faszinierend nahe kommen.

Der Komponist Arthur Honegger blieb seiner Begeisterung für Lokomotiven auch jenseits des Kinos treu. Aus der Musik, die er zum Filmprolog beisteuerte, entwickelte er sein rasendes Orchesterstück „Pacific 231“. Es schnauft auch beim Musikfest vorbei, wenn das Konzerthausorchester unter Juraj Valcuha am 6. September für ordentlich Druck auf dem Kessel sorgt.

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