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Die Teilnehmerin einer Demonstration gegen Coronamaßnahmen in München.

© dpa

Nach dem Frühjahr der Ideologie: Wie können wir Gesellschaftskritik retten?

Im Zweifel für den Zweifel? Über die Schwierigkeit von kritischer Reflexion in Zeiten von Coronaleugnern und „alternativen Fakten“. Ein Essay.

Es war in diesem Frühjahr nicht leicht, die politische Orientierung zu behalten. Kaum wurde das Ausmaß der Corona-Pandemie offensichtlich, schienen über Jahre mühsam gefestigte Glaubenssätze hinfällig zu sein. Überzeugte Staatskritiker begrüßten plötzlich weitreichende Vorschriften ausdrücklich. Advokaten neoliberaler Eigenverantwortung beantragten als erstes Corona-Hilfsgeld für Selbstständige. Und die größten Ökos fuhren aus Sicherheitsgründen wieder mit dem Auto zur Arbeit.

Innerhalb kürzester Zeit war jeder Einzelne gezwungen, eine Strategie zu entwickeln, um mit der unerträglichen Ambivalenz der Krisenzeit umzugehen.

Gleichzeitig erlebte die Bundesrepublik die weitestgehenden Einschränkungen von Grundrechten in der jüngeren Geschichte – ohne ernstzunehmende Opposition. Fast wollte man aufatmen, als sich die ersten Menschen wieder versammelten, um gegen Ausgangsbegrenzungen und Einschränkungen des Versammlungsrechtes zu demonstrieren. Sie hielten Schilder hoch, auf denen zu lesen war: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“.

Ausgerechnet Immanuel Kant wurde zum Kronzeugen eines immer unappetitlicher werdenden Querfront-Bündnisses ernannt. Es wollte den Geist der öffentlichen Kritik auf der Straße entfesseln, den der Philosoph der Aufklärung einst beschworen hatte.

Wie kann Gesellschaftskritik in diesen Zeiten noch gelingen, in denen die Grenzen zwischen Rebellion und Ideologie verschwimmen?

Kritisches Bewusstsein, das bedeutete nicht erst seit 1968 die durchaus provokative Infragestellung von zentralen Werten und Normen der Gesellschaft: Den Konsens brechen. Das Nicht-einverstanden-sein. Das Gegen-den-Strich-bürsten. Das Aufbegehren gegen „die da oben“, das sich stets in der Popkultur widerspiegelte: „Wir wissen selber, was zu tun ist, unser Kopf ist groß genug“, sangen Ton, Steine, Scherben. 40 Jahre später mahnten Tocotronic: „Im Zweifel für den Zweifel. Und gegen allen Zwang“. Doch Zweifel allein scheint heute, wo wir oft nicht mehr wissen, was zu tun ist, kein Aushängeschild für Progressivität mehr.

Heute gilt: Rücksichtslosigkeit statt Reflexion, Angriff statt Analyse

Durch die Berufung auf die Vernunft als universelle Urteilsinstanz will Gesellschaftskritik seit der Aufklärung die vorherrschenden Werte und Praktiken infrage stellen. Sie konfrontiert die vermeintliche Normalität mit Widersprüchen und verweist darauf, dass die Einrichtung unseres Daseins nicht so sein müsste, wie sie ist.

Hegel sprach von einer „Entzweiung der Welt“. Durch Reflexion könne demnach ein Gegenstand aufgespalten werden: in das, was er vorgibt zu sein, und das, was er ist. Dadurch erst lasse sich das Ziel verfolgen, „das Negative der bestehenden Welt aufzuheben, um sich in ihr zu finden und zu genießen, um leben zu können“.

[Aktuelle Entwicklungen zur Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Die Entwicklungen speziell in Berlin an dieser Stelle.]

Später drängte Marx auf die „rücksichtslose Kritik alles Bestehenden, rücksichtslos sowohl in dem Sinne, dass die Kritik sich nicht vor ihren Resultaten fürchtet und ebenso wenig vor dem Konflikt mit den vorhandenen Mächten.“

Heute scheint es fast so, als wendeten die modernen „Kritiker“ in einem vulgären Sinne Marx gegen Hegel. Rücksichtslosigkeit statt Reflexion. Angriff statt Analyse. Deutungshoheit statt Differenzierung.

Die sich als kritische Wahrheitssucher Gebärdenden scheinen weit davon entfernt zu sein, öffentlich von ihrer Vernunft Gebrauch zu machen. War Kritik für Kant noch in erster Linie die Beurteilung und Berichtigung der eigenen Erkenntnis, geht es dem „Widerstand“ im Jahr 2020 darum, die eigene Rechthaberei abzusichern. Statt die Kritik im Handgemenge zu suchen, haben sie sich auf den Feldherrenhügel der eigenen Filterblase zurückgezogen oder lauern als Heckenschütze im Dickicht sozialer Netzwerke.

Analyse ist notwendig für Veränderung

Es ist das Sich-gefallen in der Pose des Widerstandskämpfers, das Bild des außerhalb der Welt stehenden Bescheidwissers. Auserwählt, wie Neo im Science-Fiction-Klassiker „Matrix“, dem Morpheus im markigen Tonfall die Entlarvung der Scheinwelt verkündet und eine Pille anbietet, um daraus aufzuwachen. Das Gerede von „Gib Gates keine Chance“ bis „Coronadiktatur stoppen“ gleicht eher Beschwörungsformeln, um sich von der „Herde der Schlafschafe“ abzugrenzen.

Wenn die Welt zu kompliziert ist für mein Denken, dann passe ich sie eben meinem Kopf an. Damit aber verkommt der kritische Impuls zu einer versteinerten Denkform: zum Ressentiment.

Über herrschende Zustände zu jammern und Schuldige ausmachen zu wollen, ist ein menschlicher Zug – die Zustände erklären zu können aber die notwendige Bedingung ihrer Veränderung. Dafür allerdings müsste man sich der Realität mit all ihren Widersprüchen aussetzen.

Kritik ist nicht das bloße Aufmucken gegen jede Form der Autorität. Zumal dann nicht, wenn diese auf Expertise fußt. Man denke an Piloten in Flugzeugen, Chirurgen am OP-Tisch oder eben Virologen in Pandemien. Kritisches Denken müsste sich dem spontanen Impuls zum schnellen Urteil versperren, Distanz zum Geschehen bekommen.

Es würde bedeuten, Skepsis gegenüber allen Quellen walten zu lassen und die bewusste Konfrontation mit alternativen Hypothesen und Erklärungen zu suchen – ohne dabei Informationen zu bevorzugen, die ohnehin der eigenen Auffassung entsprechen. Und da das Denken nie ein Ende findet, braucht es unausweichlich das Aushalten von Ambivalenzen. Der Lyriker Peter Rühmkorf drückte es einmal schön aus: „In meinen Kopf passen viele Widersprüche.“

Gesellschaftskritik muss selbst kritisch reflektiert werden

Eine der vornehmsten Aufgaben heute wäre es freilich, die Grenzen des kritischen Denkens auszuloten: Warum greift das Irrationale in Gesellschaften um sich? Warum ist es möglich, dass ein US-Präsident sich mit „alternativen Fakten“ die Welt zurechtbiegt? Warum schreien Menschen angesichts eines rassistischen Mordes „Aber die Diskriminierung der Weißen!“, statt sich zunächst empathisch mit dem Leid zu solidarisieren? Warum nähern sie sich lieber mit vorgefasster Meinung einem Gegenstand, statt mit kühler Analyse? Kurzum: Warum beanspruchen viele, den Mut haben zu wollen, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, aber bleiben beim Affekt stehen?

Letztlich müsste die Möglichkeit von Gesellschaftskritik selbst zum Gegenstand der Reflexion werden.

Denn nicht nur die Welt bedarf eines Spiegels, der ihr vorgehalten wird, sondern auch ihr Korrektiv. Auch die kritischste Reflexion ist stets durch die Gesellschaft begrenzt, in der sie stattfindet.

Ein Beginn wäre es, sich nicht blind ins Recht zu setzen, sondern die eigene Position stets mit einem gesunden Misstrauen zu reflektieren. Fehlbarkeit und Verstricktheit einzupreisen, statt die eigene Erkenntnis zu verabsolutieren. Intellektuelle Bescheidenheit und couragierte Entschiedenheit müssen sich nicht ausschließen.

Die Mündigkeit, das Wahre vom Unwahren unterscheiden zu können, bleibt zentrale Bedingung des demokratischen Miteinanders. Und sie beginnt im Selbstgespräch. „Im Zweifel für den Zweifel“? Fangen Sie doch bei diesem Text an, fangen wir bei uns an.

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