zum Hauptinhalt
Jäger und Beute: Das erste Bild des grausamen allegorischen Zyklus' „Das Gastmahl des Nastagio degli Onesti“ (1487, Prado) von Botticelli.

© Mauritius Images

Nach dem Fall Weinstein: Sex, Gewalt – und wo bleibt die Liebe?

Die Geschichte zwischen Männern und Frauen bedarf einer Revolution. Der Wahnsinn der Liebe geht weit über die sexualpolitische Korrektheit hinaus.

Die Geschichten um den Hollywood-Produzenten Weinstein & Co. spielen in einer kriminellen Schmutzecke. Diese Ecke voller Gier, Gewalt und Demütigung aber ist: die Welt.

Die Welt nicht nur des „weißen“ Mannes im alten, reichen Westen – wie selbst nach dem Fall des US-Entertainers Bill Cosby noch häufig behauptet wird. Es geht um den übergriffigen Machismo in jeder Hautfarbe und allen Kulturen, auch in Afrika, Südamerika, Asien. Und das in allen sozialen Schichten, überall dort, wo Macht, Gewalt, Sex, Geld oder Not die Rechte von Frauen, Mädchen, Kindern habituell wie traditionell infrage stellen.

In den vergangenen drei, vier Jahrzehnten hat sich zumindest im alten, reichen Westen einiges geändert, was gewisse Mindeststandards des Respekts und der Gleichberechtigung im Umgang von Männern und Frauen angeht. Uns heute irrwitzig anmutende Beschränkungen etwa der Geschäftsfähigkeit von verheirateten Frauen sind längst gefallen, selbst in der Ehe kann sexuelle Gewalt inzwischen strafbar sein (wobei die Bezeichnung „selbst in der Ehe“ das Problem zur Kenntlichkeit entstellt).

Allerdings muss man nur ein paar Folgen der superben TV-Serie „Mad Men“ gesehen haben, um sich der Dünne des zivilisatorischen Firnisses bewusst zu werden. Reibt man sich doch die Augen, auf welche Weise nicht etwa in der amerikanischen Provinz, im künftigen „Trump’s Land“, sondern mitten in New York von normalen (Geschäfts-)Männern noch während der Jahre 1960 ff. ganz alltäglich mit Frauen, Freundinnen, Mitarbeiterinnen umgesprungen wurde. Wie mit Objekten, Sklavinnen, Haustieren. Und das ist nicht satirisch, nicht überzeichnet.

Hat sich der fidele Mainstream im Westen tatsächlich von seinen sexistischen Urbildern entfernt?

Wer nun angesichts all der in immer neuen Meldungen und Hashtags verbreiteten sexuellen Missbrauchsfälle etwas mit Nachhaltigkeit verändern möchte, der muss sich darüber klar sein: Es bräuchte hierfür über alle spontane Empörung hinaus eine anthropologisch-kulturelle Wende. Ja, Revolution. Diese wünschte Frauen und Männern bereits vor 200 Jahren der libertär-emanzipative Frühsozialist Charles Fourier in seiner Schrift „Le nouveau monde amoureux“ („Die neue Liebeswelt“). Und die Dichterin Ingeborg Bachmann sagte vor 40 Jahren einmal, „der Faschismus“ fange immer wieder an „in der Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau“.

Ebenso, das ist nun nicht mehr Bachmann, würde eine wahre Aufklärung beispielsweise in den islamischen Ländern heute zuallererst eine Revolution des Bildes von Frauen und Männern bedeuten. In allen drei großen monotheistischen Religionen ist das Menschenbild männlich bestimmt. Und der höchste Gott der frühen Griechen und Römer war ein Mannsbild, das seine Gattin zum Jokus der antiken Heldensagen am liebsten betrog. Oft mittels Verstellung, Entführung und gewaltiger Verführung wie einst bei der phönizischen Prinzessin Europa und dem in einen Stier verwandelten Zeus. Das Abbild eines Gottvaters steckt so auch im alten Adam und in diesem der alte Affe.

Aber hat sich der fidele Mainstream im säkularen permissiven Westen trotz unzähliger neuer weiblicher Rollenbilder tatsächlich weltenweit von seinen sexistischen Urbildern entfernt? Ab und an wird in Deutschland über anzügliche Brüderle-Sprüche, über verrutschte Galanterien älterer Herren oder Werbefotos halbnackter Models diskutiert. Offenbar unbeanstandet bleibt ein TV-Spot zur besten Sendezeit, direkt vor Beginn der ARD-„Tagesschau“. Für eine Schlankheitskur wird da mit Zooms auf wackelnde Bikini-Brüste geworben und mit dem Auftritt einer Frau, die abends beim Mann an der Haustür klingelt und als Begrüßung nur ihren Mantel öffnet. Darunter hat sie fast nichts an. Auch das ist keineswegs satirisch gemeint – die „Mad Men“-Welt im Jahr 2017.

Von Liebe ist bezeichnenderweise überhaupt nicht die Rede

Jäger und Beute: Das erste Bild des grausamen allegorischen Zyklus' „Das Gastmahl des Nastagio degli Onesti“ (1487, Prado) von Botticelli.
Jäger und Beute: Das erste Bild des grausamen allegorischen Zyklus' „Das Gastmahl des Nastagio degli Onesti“ (1487, Prado) von Botticelli.

© Mauritius Images

Um jedes Missverständnis zu vermeiden: Nachfolgend geht’s nicht um einen neuen Puritanismus. Der stünde im Internet-Porno-Zeitalter ohnehin auf verlorenem Posten. Selbst die in jüngster Zeit verstärkten Versuche, eine angeblich alternative, „weiblich bestimmte“ Pornografie zu diskutieren und durch Festivals und neue Plattformen zu fördern, wirkt eher scheinheilig. Auch dort geht es nicht vordringlich um Aufklärung, Emanzipation oder künstlerische Gegenbilder, sondern vor allem um erweiterte Märkte. Zu deren Kunden zählen womöglich selbst Frauen, die ihrerseits noch die alten Männerfantasien mitbedienen. Frauen auch, die zu den Millionen Berlusconi- oder Trump-Wählerinnen gehören oder einer demütigend dummen SM- Schmonzette wie „50 Shades of Grey“ zum Welterfolg verhelfen.

Viel eher aber fehlt in der Debatte die Frage, ob eine freie, selbstbestimmte Sexualität zwischen Männern und Frauen (oder gleichgeschlechtlichen Partnern) nicht ein Gespür wieder entwickeln müsste für Scham, Scheuheit, Zartheit. Gar nicht zu schweigen von: Liebe. Von ihr ist bezeichnenderweise überhaupt nicht die Rede

Ein Schlüsselbegriff ist dagegen Respekt. Doch soll Respekt nur zwischen volljährigen Sexualpartnern gelten? Natürlich, sexueller Missbrauch von Kindern ist ein Delikt und Pädophilie ein Tabu. Aber verletzt eine ansonsten weitgehend tabulose Erwachsenenwelt nicht auch ohne direkte Übergriffe die Welt der Kindheit? Die Welt der erst noch erwachsen Werdenden? Meist vergessen die Debatten über modernes Ehe- und Scheidungsrecht und über die weithin ungebremste Selbstverwirklichung jeder Gendervariante, dass hierzu Kinder, also die Gesellschaft von morgen, als kollateral Mitbetroffene gar nicht gefragt werden. Nicht gefragt werden können.

Statt einer gemeinsamen Welt öffnen sich so plötzlich Parallelwelten. Kommen Kinder mit ihr dann unverhofft doch in Kontakt, kann es zur Katastrophe kommen – wie (beinahe) in Michael Hanekes jüngstem Film „Happy End“, wo ein junges Mädchen im Laptop ihres Vaters in dessen Abgründe blickt. Sie erfährt da etwas über die Beziehung zwischen Männern und Frauen, das Libertinage verheißt, aber kaum Freiheit.

Eine Mischung aus Hilflosigkeit, Übereifer und Bürokratie

Doch zurück zur reinen, unreinen Erwachsenenwelt. Als hilfreich bei der Regelung des respektvollen Geschlechtsverkehrs wird jetzt das Merkmal der „Einvernehmlichkeit“ betont. Juristisch und moralisch diene das ausdrücklich geäußerte Einverständnis beim Sex, beginnend schon bei dessen flirtiver Anbahnung, einer konfliktfreien Begegnung. Neudeutsch: auf „Augenhöhe“.

An amerikanischen Universitäten werden darum häufig schon schriftliche Abmachungen zwischen möglichen Sexualpartnern gefordert, vor allem seit „sexual harassment“ (sexuelle Belästigung) dort zum gängigen Topos bei Anschuldigungen gegenüber Lehrenden oder zwischen Studierenden geworden ist. Unlängst hat auch in der „Zeit“ ein Autor zivilrechtliche Verträge zwischen Mann und Frau in allen einschlägigen Lebens- und Liebeslagen gefordert. Als könne oder wolle jeder und jede immerzu einen Katalog von erwünschten oder nicht erwünschten Kontakten und Praktiken mit sich führen und – beim ersten Bier, beim ersten Kuss ? – sich das alles vom Partner gegenzeichnen lassen. Wobei es mit wechselnden Stimmungslagen dann wohl jeweils neuer Vertragsvarianten bedürfte.

Auch das ist keine Satire. Es entspringt vielmehr einer Mischung aus Hilflosigkeit, Übereifer und einem technokratisch-bürokratischen Verständnis sinnlicher „Beziehungen“. Wie vorausahnend hat Botho Strauß 1981 in seiner bis heute glänzenden essayistischen Prosasammlung „Paare Passanten“ über das Wort „Beziehungen“ geschrieben: „So handelsplatt wie es klingt, sucht es den Umgang mit der gründlichen Gefahr, welche die Liebe ihrem Wesen nach für das Gemeinwohl darstellt, künstlich zu ernüchtern und eine Berechenbarkeit hineinzubeschwören in eine Sphäre, die noch immer die ursprünglichste, undurchdringlichste und verschlingendste des Menschen ist.“

Tatsächlich bedeuten Liebe und erotisches Begehren immer eine Entgrenzung. Also auch eine (potenzielle) Grenzüberschreitung. Sie beginnt mit dem Flirt und hat zu tun mit der (wechselseitigen) „Verführung“, einem Motiv – vom „Kamasutra“ über die gesamte Weltliteratur und durch die Geschichte von Theater, Oper und Film bis hin zum Schlager, Chanson, Popsong. Der Wahnsinn der Liebe, die amour fou, der Bruch von Herzen, der Zusammenklang von Leiden und Leidenschaft, das alles transzendiert freilich die sexualpolitische Korrektheit. Darum ist alles viel komplizierter. Wenn es um Sex und Liebe geht. Und nicht nur um die lieblosen Schweinereien der Weinsteinzeit.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false