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Kultur: Mysterium der Marsmenschen

Am 13.Mai 1968 begann, von Paris ausgehend, der Streik der sieben Millionen.

Am 13.Mai 1968 begann, von Paris ausgehend, der Streik der sieben Millionen.Hatten sich die Revoltierer nur in die französische Realität verirrt?VON JÖRG VON UTHMANNAuch die Franzosen haben den stürmischen Mai des Jahres 1968 nicht vergessen.Bücher, Kolloquien und Sonderbeilagen der Zeitungen erinnern an die bewegten Tage, in denen Studenten die Sorbonne besetzten, Barrikaden errichteten und den General de Gaulle beinahe zum Rücktritt genötigt hätten.Doch die rechte Feierstimmung will nicht aufkommen.Sogar die alten Kämpen von damals zeigen weniger Nostalgie als Verlegenheit.Als wir mit Régis Debray, dem Kompagnon von Fidel Castro und Che Guevara, der 1968 allerdings in einem bolivianischen Gefängnis schmachtete, über das Jubiläum sprechen, winkt er müde ab.Das seien Jugendsünden gewesen, heute interessiere er sich nicht mehr für die Politik, sondern für die Kunst.Eine Umfrage des Nachrichtenmagazins "Express" zeigt, daß auch die Kinder der Barrikadenbauer für die Heldentaten ihrer Eltern nur geringes Interesse aufbringen.Auf die Frage, ob sie 1968 gern dabeigewesen wären, antworten 54 Prozent der Achtzehn- bis Dreißigjährigen mit Nein.Gefragt, welche Werte der soixante-huitards sie immer noch für zeitgemäß halten, nennen sie an erster Stelle den Schutz von Minderheiten und die sexuelle Freiheit.Klassenkampf und Revolution scheinen ihnen dagegen überholt.Wer von den Leitartiklern Aufklärung über die Gründe der Studentenrevolte erhofft, wird enttäuscht.Jean Daniel, Herausgeber des (linken) "Nouvel Observateur", nennt die von niemandem vorausgesehenen Unruhen ein "Mysterium", das Freund und Feind noch heute verwirre.Marxistische Erklärungen seien schon deshalb abwegig, weil es den Franzosen nie besser gegangen sei als damals.Claude Imbert, Herausgeber des (rechten) "Point", spricht von einem surrealistischen "Veitstanz", dem "Delirium von Marsmenschen, die sich in die französische Realität verirrt hatten".Um die Quelle der Unruhen zu finden, braucht man freilich den Mars nicht zu bemühen.Es genügt, einen Blick über den Atlantik zu werfen.Die Revolution von 1848 hatte sich von Paris aus über halb Europa verbreitet.Der Herd der Revolte von 1968 waren die amerikanischen Universitäten.In den USA ging es nicht um utopische Träume, sondern um handfeste politische Fragen - den Vietnam-Krieg und die Gleichberechtigung der Schwarzen.Es ist kein Zufall, daß den Mai-Unruhen Ereignisse vorausgingen, die Amerika tief aufwühlten: die Ermordung von Martin Luther King (am 4.April), die Krawalle in 125 amerikanischen Städten, die dem Mord folgten (bis 11.April) und die Besetzung der New Yorker Columbia University (29.April).Erst in der europäischen Kopie verwandelte sich das amerikanische Original in ein Sturm-und-Drang-Erlebnis mit weltrevolutionärem Pathos.Die Kopie zeigte zugleich, wie amerikanisiert Europa schon damals war.Nicht ohne Ironie berichteten Washingtons Diplomaten, daß deutsche und französische Studenten gegen die amerikanische Vietnam-Politik in den amerikanischen Formen des go-in, sit-in und teach-in protestierten.Derlei hört man in Paris nicht gern.Obwohl die amerikanische Revolution der französischen vorausging, betrachtet man sich doch als den Inhaber des Patents.Auch das Feuer der französischen Intellektuellen für Vietnam ist ohne das anti-amerikanische Ressentiment nicht zu erklären.Nach dem Abzug der Amerikaner erlosch das Interesse sofort.Nur sehr wenige der "Ho-Ho-Ho-Chi-Minh"-Rufer waren bereit, von der Verzweiflung der boat people Kenntnis zu nehmen.Für die Studenten, die das Quartier Latin im Mai 1968 auf den Kopf stellten, waren die Vietnamesen eine Art Ersatzproletariat.Denn mit dem eigenen Proletariat, als dessen Vorkämpfer sie sich fühlten, hatten sie es schwer.Zwar gipfelten die Unruhen am 13.Mai in einem Generalstreik, der ganz Frankreich, außer dem Elsaß, lahmlegte.Doch ging die Kommunistische Partei (PCF) zu den Studenten sofort auf Distanz.Der "Nouvel Observateur" veröffentlicht jetzt zum ersten Mal Auszüge aus den internen Weisungen der PCF und den Berichten des sowjetischen Botschafters Sorin an seine vorgesetzte Dienststelle.Sie bestätigen, was man schon wußte: Die Kommunisten wollten mit der Scheinrevolution der "Bürgersöhnchen" nichts zu tun haben, sondern sich als staatstragende Partei profilieren.Die Sowjetunion wiederum hatte kein Interesse daran, de Gaulle, den Störenfried in der NATO, in die Bredouille zu bringen.Politisch hatte die Revolte von 1968 ähnliche Folgen wie die Revolution von 1848.Sie nutzte der Rechten und schadete der Linken.Die "Angstwahlen" am 23.und 30.Juni endeten mit einem überwältigenden Triumph für die Regierung.Sozialisten und Kommunisten verloren die Hälfte ihrer Mandate; sie brauchten 13 Jahre, um sich von dem Schlag zu erholen.Über die langfristigen Folgen sind sich die Beobachter nicht einig.Für den Herausgeber des "Point" ist es vor allem die "Selbstverwirklichung", die heute jedermann (und jedefrau natürlich auch) für sich in Anspruch nimmt.Darin, daß es nicht gelang, auch den dirigistischen Staat zu liberalisieren, sieht er einen der Hauptwidersprüche des französischen Systems.Für Jean-François Kahn, den Herausgeber der Wochenzeitschrift "Marianne", ist 1968 die Geburtsstunde der political correctness.So wie der erzliberale Raymond Aron damals als "facho" attackiert worden sei, müsse heute jeder, der die Musik von Boulez oder gewisse Tendenzen der modernen Kunst ablehne, damit rechnen, als "Faschisto-Petainist" beschimpft zu werden.Wer Verständnis für die Notwendigkeit äußere, die Einwanderung zu reglementieren, werde sofort einer "Lepenisation des Geistes" geziehen."La Cause du People", die von Sartre in höchsteigener Person verteilte Zeitung der Barrikadenkämpfer, blieb nicht lange am Leben.Ihr Nachfolger ist "Libération".Doch selbst "Libé", der "Osservatore Romano" der Alt-Achtundsechziger, hat sich den Spielregeln des Kapitalismus angepaßt.Längst verdienen dort die Putzfrauen nicht mehr dasselbe wie der Chefredakteur.Eigentümer ist ein Speditionsunternehmen."In Frankreich gärt es", vertraute Lichtenberg seinem "Sudelbuch" an, als er vom Sturm auf die Bastille hörte."Ob es Wein oder Essig werden wird, ist ungewiß." Wenn die Zeichen der Zeit nicht trügen, haben sich die Franzosen entschlossen, den Jahrgang 1968 eher als Essig abzuschreiben.

JÖRG VON UTHMANN

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