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Futuristisch. Die Girl-Reihe mit extravaganten Kopfputz von Hutdesigner Philip Tracey in der aktuellen Show „Vivid“.

© Brinhoff-Mögenburg/Friedrichstadt-Palast

Musiktheater feiert 100 Jahre: „Es ist ein Wunder, dass es den Friedrichstadt-Palast noch gibt“

Stirbt die Revue aus? Berndt Schmidt, der Intendant des Friedichstadt-Palasts, im Interview über die Geschichte und Zukunft einer unterschätzten Kunstform.

Herr Schmidt. wo sehen Sie den Friedrichstadt-Palast in 100 Jahren?
Es ist nicht ausgemacht, dass es den Friedrichstadt-Palast in 100 Jahren noch gibt. Allein, dass wir die 100 geschafft haben, ist schon ein mittleres Wunder. Ich kenne im Unterhaltungsbereich kein anderes Berliner Theater aus den Zwanzigern, das es heute noch gibt.

Nach der Wiedervereinigung gab's ja die Diskussion, ob es das Haus überhaupt noch braucht, ob Revue nicht eine überkommene Kunstform ist. Bei uns geht es von Premiere zu Premiere ums Ganze. Wir dürfen daher nicht nachlässig werden.

Trauen Sie sich trotzdem, zu spinnen: Was für einen Palast können Sie sich 2120 vorstellen?
Leute, die sich vor 100 Jahren die Zukunft vorgestellt haben, lagen ja immer lächerlich daneben. Doch die Faszination, Teil einer Aufführung zu sein, scheint als Gemeinschaftserlebnis Bestand zu haben. Nur finden Teile des Bühnenbildes künftig vielleicht per Chip im Gehirn jedes Einzelnen statt. Die größte Show in Las Vegas - KA vom Cirque du Soleil - ist reine technische Überwältigung, eine unfassbar mächtige Show mit einer Bühne, die man in alle Richtungen schwenken kann.

Trotzdem sind die menschlichen Momente das Beste daran. Menschen werden weiter vom Können der anderen fasziniert sein. Deswegen werden bei uns auch die Girlreihe und die Artistik bejubelt.

Der Cirque du Soleil wird ab Herbst 2020 am Potsdamer Platz spielen. Wird das eine harte Konkurrenz für Sie?
Für beide. Der Cirque du Soleil macht es sich mit der Standortwahl nicht leicht. Das wird die erste feste Dependance in Europa, er hätte auch eine andere Stadt wählen können. Und er hat Berlin ausgesucht, wo es in Europa den einzigen ernstzunehmenden Konkurrenten im selben Genre gibt.

Das ist mutig, weil unsere Bühne größer ist. Ich freue mich jedoch sehr darüber und hoffe, dass Berlin sich analog zur Musicalstadt Hamburg zur Show-Metropole entwickelt.

Ihre Publikumsauslastung liegt bei 93 Prozent. Viel Luft ist da vor Ort nicht. Müssen Sie nicht auch Dependancen aufmachen? Etwa am Persischen Golf, wo alle europäischen Erfolgsrezepte der Kultur kopiert werden?
Tatsächlich hatte ich mal eine Anfrage aus Saudi-Arabien. Ich habe abgelehnt. Man sollte nicht immer dahin gehen, wo das Geld ist. Bei uns fragt immer wieder das russische Staatsballett an, ob sie den Palast für Gastspiele mieten können.

Seit Russland dieses Anti-Homosexuellen-Propaganda-Gesetz erlassen hat vor ein paar Jahren, bekommen staatliche Einrichtungen von uns keine Zusage mehr. Private russische Veranstalter aber schon, wir sind ja nicht gegen Russen.

Der Vorteil der Revue ist, dass Sie keine Geschichte erzählen müssen und universell verstanden werden. Aber genau das ist auch der Nachteil. Wie lässt sich eine Show, die nur von bunten Bildern lebt, entwickeln? Das Besteck bleibt doch immer dasselbe.
Die Herausforderung, mit den immer selben Zutaten was Neues zu machen, betrifft alle Bühnen. Keine Kunstform ist so flexibel wie die Revue, deswegen ist es da fast am einfachsten. Gut begründet, können sie ein Heavy-Metal-Stück spielen und sofort danach eins aus Tschaikowskys „Schwanensee“.

Wir müssen wissen, was die Leute wollen, bevor sie es selber wissen. Das Thema unserer aktuellen Grand Show „Vivid“ ist eine Liebeserklärung an das Leben, in einer Zeit, wo viel von Spaltung, Hass und Zukunftsangst die Rede ist. Das trifft einen Nerv. Slapstick und reine Komik würden derzeit eher nicht ankommen.

Sie machen sich über Inhalte also mehr Gedanken, als man denkt?
Unsere Shows sind seit Qi immer erzählerischer geworden. Nicht im Sinne eines Musicals, in dem es ein Libretto gibt, sondern im Sinne einer Geschichte, die die Leute mitnimmt. Das soll bei der nächsten Grand Show, die im Herbst 2020 herauskommt, wieder so sein.

Warum drängt sich die Musik immer mehr in den Vordergrund: Trauen Sie ihren Choreografen und Ausstattern nicht zu, immer neue Superlative zu erfinden?
„Vivid“ fährt durchaus eine prächtige Ausstattung auf. Für Philip Treaceys Hüte haben wir bis zu 30 000 Euro pro Stück gezahlt. Diesmal ist aber viel Personage dabei, die sich gesanglich vorstellen muss.

Warum verwenden Sie keine Original-Songs, sondern lassen sich stattdessen Stilkopien komponieren?
Gelegentlich nehmen wir Originale rein, aber das ist unfassbar teuer. Da soll man dann für zwei Jahre Laufzeit gerne mal 400 000 Euro zahlen. Jukebox-Musicals wie „Mamma Mia“ kaufen gleich das ganze Bündel eines Interpreten, bei uns darf Musik aber nicht monothematisch sein, das schließt zu viel Publikum aus.

Kann es sein, dass Sie mit dem Derwisch-Tanz und den arabischen Kalligrafie-Projektionen in „Vivid“ erstmals bewusst auf muslimisches Publikum schielen?
Es sind Shakespeare-Rezitationen auf Arabisch. Die Absicht ist allerdings nur, zu zeigen, dass die arabische Sprache wunderschön sein kann. Sonst gilt ja das Klischee, dass die Leute alarmiert sind, wenn sie Arabisch hören.

Zur Vielfalt gehört in Berlin aber auch diese Sprache dazu, genauso wie Homosexualität, das sind normale Bestandteile der Welt. Deswegen schiele ich aber nicht betont auf queere oder muslimische Zielgruppen. Das wäre viel zu gewollt. Außerdem passt unsere Show gar nicht für Leute mit sehr religiösem Hintergrund. Dafür ist zu viel nackte Haut zu sehen.

Bei Premieren halten Sie immer eine Begrüßungsrede, in der Sie die Vielfalt preisen. Nach den normalen Vorstellungen bekommt das Publikum regenbogenbunte Pappen in die Hand gedrückt, auf denen zum Respekt untereinander aufgefordert wird: Wollen Sie eine moralische Lehranstalt sein?
„Respect each other“ ist ja ein relativ einfacher Aufruf, aber schon der bringt manche auf die Palme. Ich möchte nicht mit dem erhobenen Zeigefinger auftreten. Diversität soll im Friedrichstadt-Palast eine angenehme Erfahrung sein.

Die Leute sollen sehen, dass Vielfalt schön ist und nicht weh tut. Sie sollen verstehen, dass sie nicht schwul werden müssen, nur weil sie einen Schwulen auf der Bühne sehen.

Andererseits sind sie auch mit deutlichen Statements zu politischen Fragen bekannt geworden, beispielsweise mit ihrer Abgrenzung zur Ideologie der AfD.
Für ein Unterhaltungstheater ist das in der Tat ungewöhnlich. Viele halten sich raus aus den politischen Diskussionen, weil sie sich nicht mit der potenziellen Kundschaft anlegen wollen. Wir verfügen mit Max Reinhardt über jüdische Wurzeln, der große Revue-Macher Erik Charell war Jude und homosexuell, Hans Poelzigs expressionistische Architektur im Schauspielhaus wurde von den Nazis als entartet verteufelt.

Daraus erwächst für uns eine Verantwortung. Die möchte ich auf eine Weise wahrnehmen, die uns angemessen ist. Indem wir zum Beispiel dafür werben, sehr unterschiedliche Leute nicht in einen Topf zu werfen, nur weil sie Arabisch sprechen.

Gelingt es wirklich, mit Shows wie Vivid“ Vorurteile abzubauen? Oder wird die Buntheit letztlich vom Publikum nur als Exotik wahrgenommen, als etwas, dass sich nicht auf die eigene Alltagsrealität übertragen lässt?
Verschiedene Hautfarben und verschiedene sexuelle Orientierungen - das ist doch nicht exotisch! Schon gar nicht in Berlin. Aber natürlich kann Kunst die Welt nicht verändern. Einzelnen Menschen aber vermag sie eine gewisse Hoffnung zu geben.

Wenn ich sehe, dass es auch noch andere Denkweisen gibt als die, die ich bei mir zuhause auf dem Dorf kennengelernt habe, dann kann mich das trösten.

In der neuen Young Show geht es diesmal um Bücher. Kann etwas noch weiter entfernt sein von der Lebensrealität junger Menschen?
Bei uns ist es ein syrisches Flüchtlingsmädchen, das die Bücher liest. Sie braucht die Literatur, um die Realität um sich herum auszublenden. Dafür wird sie in ihrer Klasse als Nerd angesehen, weil sie noch nicht einmal Whatsapp nutzt.

Die Grundidee ist: In schwierigen Situationen helfen dir Ausflüge in Fantasiewelten. Es ist schade, wenn eine Kulturleistung wie das Lesen verschwindet. Darauf wollen wir aufmerksam machen, in unserer eigenen, spielerischen Art. Wenn danach nur ein paar Kinder wieder anfangen zu lesen, ist doch schon viel gewonnen.

Immer wieder wird darüber diskutiert, ob ein Unterhaltungstempel überhaupt staatliche Unterstützung bekommen sollte. Ja, warum eigentlich?
Wir haben wie gesagt die größte überdachte Theaterbühne der Welt. Das bedeutet, dass ich auch viele Künstler und Künstlerinnen brauche. Bei uns sind an jedem Abend über 100 Mitwirkende beteiligt - das ist das Dreifache dessen, was Sie in einer normalen Musicalproduktion geboten bekommen. Das führt zu enormen Personalkosten.

Und wir haben zwei Alleinstellungsmerkmale: Zum einen das Kinder- und Jugendensemble mit 300 jungen Menschen, die ihre künstlerische Kreativität ausprobieren können, und zum anderen Ticketpreise, die bei unter 20 Euro beginnen, weil wir wollen, dass wirklich jeder zu uns kommen kann, der Lust darauf hat.

Wie lange wollen Sie eigentlich Revuetheaterintendant sein? Bis zur Rente?
So lange ich dem Haus gut tue. Ich will nicht an den Punkt kommen, wo ich mich auf den Lorbeeren ausruhe und den Stillstand verwalte. Manche Intendanten beneiden mich darum, dass ich nur alle zwei Jahre eine Produktion mache.

Aber jede unserer Grand Shows ist Gambling mit hohem Einsatz. Wir setzen immer alles auf eine Karte. Wenn die Show nicht funktioniert, sind wir schnell in der Existenzkrise. Mich macht Erfolg nervös, weil er satt macht. Wenn man sich am wohlsten fühlt, wird man oft nachlässig und legt die Saat für den Absturz. Deswegen traue dem Frieden nicht und stelle immer alles in Frage.

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