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Zombie-Quartett: Mitglieder des Solistenensembles Kaleidoskop in "Orfeo" nach Monteverdi.

© JU/Ruhrtriennale

Musikfest Berlin: Diese Unterwelt ist die Hölle

Großes Finale beim Musikfest Berlin – mit "Orfeo" nach Claudio Monteverdi, den Philharmonikern mit Carl Nielsen und Karlheinz Stockhausen. Drei Ereignisse - drei Texte.

Der Himmel hängt voller schwirrender Geigen. Ein seltsam surreales Tremolo liegt in der Luft, im zweiten Stock des Martin-Gropius-Bau, vor dem Eingang zum „Orfeo“-Parcours. Wer die Ohren spitzt, kann es schon draußen in der Niederkirchner Straße über Lautsprecher vernehmen. Monteverdi in Slowmotion, g-Moll forever, die älteste Oper der Welt auf hunderte Stunden gedehnt. Der letzte Ton wird am Ende des letzten Parcours-Tags erklingen, am 4. Oktober.

Die Zeit steht still, die Musik entkörperlicht sich. Treten Sie näher, wenn das grüne Licht aufleuchtet! Regisseurin Susanne Kennedy und ihre Mitstreiterinnen Suzan Boogaerdt und Bianca van der Schoot nennen ihre begehbare Opern-Installation frei nach Claudio Monteverdis „Orfeo“ von 1607 eine „Sterbeübung“.

In kleinen Gruppen wird man durch die Räume geschleust, Wohn-, Ess-, Badezimmer und so fort, sterile Eigenheim-Interieurs mit Kunstledersofa, Plastikmöbeln, Fototapete und jeweils ein, zwei Eurydikes, Blondinen-Perücke, weiße Bermudas, spärliche, trancehafte, ruckhafte Bewegungen, das immergleiche tumbe Gesicht - man kennt das von Kennedys Theaterarbeiten. Die Latex-Maske mit den nach unten gezogenen Mundwinkeln verwandelt Orpheus’ entschwundene Geliebte in einen Zombie der Zivilisation: Schaufensterverpuppung des American housewife.

Diese Unterwelt ist die Hölle. White Cube mit Zimmerpflanze (bei der Uraufführung in der alten Mischanlage der Kokerei Zollverein auf der Ruhrtriennale stieg man wohl wenigstens durch verrußte Trichter hinab), eine Plastikhölle des Stumpfsinns, mit Monitoren an der Wand, die wieder nur die gleichen Interieurs zeigen. Der Tod, eine Endlosschleife, und fast ohne Musik! Es ist die Stille, die einen killt.

Nur ein paar Fetzen Monteverdi sind übrig geblieben, hier eine Brise Lamento, dort ein Stück Ritornell, und eine hypnotische Stimme zitiert Sentenzen über das Loslassenkönnen („Be not attached to this world; be not weak. Do not look back“): das dramma per musica als Monodie. Keine Bläser, nur Streicher und Cembalo, es sind Mitglieder des Solistenensembles Kaleidoskop, ihr Spiel erklingt aus Lautsprechern, hinter Vorhängen und life im Musikzimmer, aber es ist wieder nur ein Zeitlupen-Zombie-Quartett, klar. Im Lauf der 80 „Orfeo“-Minuten entwickelt man eine geradezu entsetzliche Sehnsucht nach Tönen, nach Gesang, man verzehrt sich danach, wie Orpheus nach seiner Eurydike. Und dann steht man plötzlich vor Orpheus (Hubert Wild). Man wird einzeln vorgelassen, findet sich mutterseelenallein mit dem Bariton zwischen gleißend weißen Wänden, schaut einander in die Augen, und Orpheus singt, nur für dich. Keine überwältigende Stimme, die Intonation schwankt, irgendwie enttäuschend. Aber tausendmal besser als diese Selbsterfahrungsstille. Christiane Peitz

wieder 20., 26., 27., 30.9. und 1.- 4.10., 10-19 Uhr. Einlass für je 8 Personen alle 10 Minuten. Infos: www.berlinerfestspiele.de

Nielsen: der lüsterne Hirtengott und die Nymphe im klaren Licht des Nordens

Diese vierte Sinfonie von Carl Nielsen hebt das Publikum am Freitag förmlich aus den Sitzen: Im Feuerstrom des Lebens bewegt sich Simon Rattles Interpretation mit den glutvoll spielenden Berliner Philharmonikern. Von den ersten, packend vitalen Takten an vermag Rattle die vier Sätze des 1915 vollendeten Werkes im Klangfluss zu halten, einem Klangfluss, der so manche überraschende Windung kennt, stilistisch wild mäandert, schnell reißend werden kann, auch mal im dreifachen Fortissimo über die Ufer tritt, sich dann aber wieder lieblich gibt, zum bukolischen Verweilen einlädt – um schlussendlich in einem unerhörten Duell-Duett der beiden rechts und links am Bühnenrand platzierten Pauken- Virtuosen zu kulminieren.

Seit 1978 dirigiert Simon Rattle die mit dem Beinamen „Das Unauslöschliche“ geadelte Vierte, in den neunziger Jahren hat er in Großbritannien ganze Nielsen-Zyklen präsentiert. Ganz offensichtlich spricht den gelernten Perkussionisten der starke rhythmische Puls an, der dieser Musik innewohnt. Und die Freiheit, die Nielsen seinen Gedanken ließ. Ohne jemals epigonal zu werden, beobachtete der dänische Komponist, was in der zentraleuropäischen Avantgarde seiner Zeit vor sich ging. Seine Tondichtung „Pan og Syrinx“ ist vom französischen Impressionismus inspiriert, verzichtet aber, wie Rattle mit den grandiosen Holzbläser-Solisten der Berliner Philharmonikern zeigt, vollständig auf die Imitation südländischer Atmosphäre, erzählt die Geschichte vom lüsternen Hirtengott und der Nymphe im klaren Licht des Nordens.

„Hochspannungs-Stories“ könnte das Motto dieses finalen sinfonischen Programms beim Musikfest lauten: Lässig kombiniert Rattle nämlich die Nielsen- Stücke mit Schönbergs Bonsai-Drama „Die glückliche Hand“ sowie Bernard Hermanns Soundtrack zu Hitchcocks „Psycho“. Genialisch, wie Hermann abgründige Gefühle in eine ebenso schlichte wie sprechende Musiksprache zu bannen weiß. Hochgradig konzentriert und respektvoll spüren die Philharmoniker dieser tönenden Seelenanalyse nach.

Schwach wirkt in diesem Umfeld Schönbergs Versuch von 1913, Stummfilmästhetik auf die Theaterbühne zurück zu übertragen. So souverän Rattle mit seinen Musikern, den Solisten vom Rundfunkchor Berlin und einem in verzweifelter Intensität deklamierenden Florian Boesch die Partitur umzusetzen vermag: in Erinnerung bleibt nur der Eindruck von verklemmtem, verquastem Kunstwollen. Frederik Hanssen

Stockhausen: Ein Botschaft von fast kindlicher Leichtigkeit

Bis heute ist er umstritten, wird geliebt, belächelt, abgelehnt. Zwar ist Karlheinz Stockhausen als Pionier der elektronischen Musik und einer streng seriell strukturierten Avantgarde anerkannt, doch sein Interesse für fernöstliche Welterlösungstheorien und die Selbststilisierung zum Guru hält viele auf Distanz. Vor allem der siebenteilige, den Tagen der Woche zugeordnete Opernzyklus „Licht“ gilt als verquastes, gigantomanes Mysterienspiel. Doch heute haben sich die Ansprüche an musikalische Originalität im Sinne des „noch nie Gehörten“ gewandelt. Michaels Reise um die Erde, zweiter Akt des „Donnerstag“ aus „Licht“ und 1977 als erster Teil des Zyklus entstanden, ist deshalb längst kein eklektischer Streifzug durch die Weltmusik mit balinesischen und südindischen Einsprengseln mehr. Was das Ensemble Musikfabrik Köln, seit Jahrzehnten mit Stockhausens Werk vertraut, hochvirtuos beim Musikfest Berlin im Haus der Berliner Festspiele unter der Leitung von Ilan Wolkov präsentiert, verblüfft durch Konsistenz, Farbigkeit und Intensität.

In minuziöser Entsprechung akustischer und visueller Ereignisse entsteht ein faszinierendes Zusammenspiel von Klang (Paul Jeukendrup), Bewegung (Alain Louafi), Kostümen (Florence von Gerkan/Hwan Kim) und Licht (Lukas Becker). Dass Erzengel Michael die Menschheit zu Gott führen will, von finsteren Mächten angegriffen wird und nach der Liebesvereinigung mit Eva wieder gen Himmel steigt, entfaltet sich als „Botschaft“ von fast kindlicher Leichtigkeit. Marco Blaauw verkörpert Michael; mit Hilfe von Dämpfern, die er wie Patronen im Gürtel trägt, entlockt er seiner Trompete ein Spektrum von warmer Sanglichkeit bis zu schnarrender Schärfe.

Merve Kazocoglu als Eva ist sein charmantes Alter Ego am Bassetthorn.Kunstvoll umschlingen sich ihre „Formeln“, bis sie sich in einem Triller vereinen. Ein schöner Kunstgriff, dies von einem „Schwalbenpärchen“ (Fie Schouten, Carl Rosman) klarinettistisch parodieren zu lassen. Die Posaunisten Bruce Collings und Kevin Austin bilden zusammen mit Melvyn Poore an der Tuba das luziferische Triumvirat – eine vergnügliche Einladung, Karlheinz Stockhausens Welt zu betreten. Isabel Herzfeld

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