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Horrorwelt, Traumlandschaft. Abel Gances Stummfilm „J’accuse“ von 1918/19 versteht sich als pazifistisches Manifest.

© Lobster Films

Musikfest Berlin: Der Tod steht im Zimmer

Beim Musikfest Berlin wird Philippe Schoellers Neuvertonung von Abel Gances Weltkriegs-Stummfilm „J’accuse“ aufgeführt.

Wer diesen Abend im Konzerthaus mit der Neuvertonung von Abel Gances Stummfilm „J’accuse“ (1918/19) durch den französischen Komponisten Philippe Schoeller zur Gänze wahrnehmen will, steckt sich am besten ein Paar neuer Augen an: Sie sehen Gutes, sie sehen Schwieriges. Gut ist zum Beispiel, dass sich für die Musikfest-Aufführung mit dem auf größtmögliches Format angewachsenen Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter dem Dirigenten Frank Strobel ganz Europa zusammengeschlossen hat, jedenfalls mehrere Film-, Rundfunk- und Fernsehinstitutionen, das einst von Pierre Boulez gegründete Pariser IRCAM und das Musikfest sowie eine schier unübersehbare Menge von Musikern und Musikerinnen, die nun auf die Bühnenfläche unter der riesenhaften Leinwand einziehen. Im leider gar nicht ausverkauften Konzerthaus.

Schade, immerhin hat man den Film in einem jahrelangen Arbeitsprozess aus fünf verschiedenen Kopien rekonstruiert, immerhin gilt „J’accuse“ auch heute noch als Meisterwerk des europäischen Stummfilms. Die realistisch dargestellte, mit albtraumhaften Sequenzen durchsetzte Handlung um den Ersten Weltkrieg und die ungleichen Soldaten Jean und François, die beide die junge Edith lieben, brennt sich auch an diesem Abend ein als pazifistisches Manifest gegen die Abscheulichkeit des Krieges, gegen einen Horror, der viele Generationen beschädigen wird.

Der 1957 geborene Schoeller hat zu dieser Geschichte schon 2014 eine fast dreistündige Musik komponiert, die alles das klug auslässt, was die Erwartung eingeben könnte. Philippe Schoeller illustriert nur äußerst selten und dann sehr dezent, setzt vielleicht pastorale Harfen- oder Klaviertöne, wo das Leben ausnahmsweise golden leuchtet, und sparsam martialische Trommelschläge, wo der Tod bereits mitten im Zimmer steht. Sein Motto ist die Abstraktion, und das tönt nun wie eine Verbindung aus Salvatore Sciarrino und Isabel Mundry; fortwährend dampft, schüttet, kippt und zischt es von vorn, werden Aquarellfarben vermengt, die präsent, aber nie penetrant sind, fein abgemischt, doch keinesfalls schüchtern.

Bei den Einspielungen mit virtuellem Chor unterdessen – Gilbert Nuono hat sie am IRCAM vorbereitet – fängt die Szenerie an zu schillern, dann stellen sich geradezu unheimliche Tiefenwirkungen ein.

"J'accuse" enthält ganz schön viele krause Wendungen

Kommen wir zum schwierigen Teil. Denn nicht nur gilt es, das fortwährende „J’accuse“ der Protagonisten zu integrieren (alles wird ja angeklagt, das Schicksal, die Sonne, der Krieg und der Tod), überdies soll man auch mit den vielen krausen Wendungen zurechtkommen, die Jean und François zuerst zu Todfeinden, dann aber zu liebevoll zugewandten Freunden machen. Parallel muss beim Zusehen das Hauen und Stechen rund um François’ Ehefrau Edith verwaltet werden, denn Edith ist nur wenig mehr als Besitz und Verfügungsmasse, und das gewissermaßen stundenlang.

Natürlich, ein historischer Film. Doch gerade angesichts der Figur der Edith darf zu diesem Film und der gepflegten Aufführungsorgie, die nun in seinem Namen veranstaltet wird, in Zukunft gern eine Warnung gehören. Zumindest die Aufforderung, sich beim Zusehen an diesem Abend beim Musikfest Berlin besonders anzustrengen und wirklich alle Kräfte zu bündeln, was das Bewusstsein für historische Wandlungsprozesse angeht.

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