zum Hauptinhalt
Farbenprächtig. Das Ensemble der Umewaka KennAkai Foundation, zu Gast beim Musikfest Berlin.

© Kodama Seiichi/Musikfest Berln

Musikfest Berlin 2019: Wolkenbruch mit Präzision

Erhabenes Zeremoniell: Das Musikfest präsentiert die traditionelles Nō-Theater aus Japan in der Berliner Philharmonie.

„Aah, Aua!“, schreit der Donnergott. Seine wütende Maske wirkt plötzlich wie schmerzverzehrt. „Menschen können das besser aushalten!“, erwidert der Heiler genervt und schlägt noch einmal mit dem Hammer auf die Akupunkturnadel. Gerade ist die furchteinflößende Gottheit aus Unachtsamkeit durch die Wolken gefallen, bei den Menschen und leider auch auf der Hüfte gelandet.

Der junge, mittellose Mediziner kommt da ganz gelegen. Nur bezahlen kann der „Kaminari“ ihn nicht. Und bietet daher als Entlohnung die schützende Wetterhand über den Feldern seiner Heimat an, bevor er grollend den schreinartigen Theatersaal auf der Bühne der Berliner Philharmonie verlässt.

Das burleske Intermezzo in das zweite von drei Stücken, die das Ensemble der Umewaka Kennōkai Foundation Tokio während ihres Gastspiels beim Musikfest der Berliner Festspiele präsentiert. Im 25. Jahr der Städtepartnerschaft zwischen Tokio und Berlin ein beinahe schon historischer Auftritt: die letzte Darstellung des traditionellen japanischen Nō- und Kyogen-Theaters in Berlin liegt acht Jahre zurück.

Nur selten verlassen die Nō-Schulen ihr Heimatland Japan. Die Verbindung aus Schauspiel, Tanz, Gesang und musikalischer Begleitung gilt als mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit der UNESCO. Die Darsteller, Chormitglieder und Musiker vererben die Pflege des ältesten Maskentheaters der Welt seit über sechshundert Jahren von Generation zu Generation. Eine Lebensaufgabe.

Unter der Leitung von Umewaka Manzaburō III stellt das Ensemble neben der Komödie zwei weitere Hauptgattungen des über zweihundert Stücke umfassenden Kulturguts dar, das in der Edo-Zeit allein den Samurai vorbehalten war. Eröffnet wird der Abend mit dem kultischen Nō-Tanzspiel "Shōjō – Midare: Sō no mai“ in dem Shōjō, der Geist des Weins, einem einfachen Bauern zu ewigem Reichtum verhilft.

Trommeln und Flötisten ziehen in ihren Bann

Schon der Auftritt der drei Trommler, des Flötisten und des Chors zieht das Publikum in seinen Bann: jeder Schritt, jede Bewegung folgt einer erhabenen Gleichmäßigkeit und Präzision. Die Bühne, traditionell bemalt, wirkt in der geradlinigen Architektur der Philharmonie wie eine Reliquie, ein Tor in eine andere Welt.

Als zu den Trommelschlägen, Ruflauten und dem expressionistischen Tönen der Bambusquerflöte der erste Shite-Hauptdarsteller als Weingeist die Bühne betritt, geht zum ersten Mal ein Staunen durch die Reihen. Man staunt über das aufwendige orange Kostüm, die langen roten Haare und die Maske, die je nach Kopfneigung einen anderen Ausdruck anzunehmen scheint und dadurch unheimlich lebendig wirkt.

Viele verschiedene Emotionen sind gebündelt in den sogenannten Larven, die eigene Namen und Charaktereigenschaften tragen. Ihre Herstellung aus japanischem Zypressenholz ist ein traditionsreiches Kunsthandwerk.

Die uralte Theaterform gleich einer Zeremonie

Auch die abstrahierten Bewegungen des Shite unterstreichen, worum es bei dieser uralten Theaterform geht: wie in einer Zeremonie werden durch die Abwesenheit von Realismus und Improvisation die Grenzen zwischen dem Irdischen und dem Spirituellen verwischt, werden traumähnliche Fabeln erzählt, die von Göttern und Dämonen, eigentlich aber doch von den Träumen und Ängsten der Menschen handeln. Jedes Wort ist gesprochen und doch auch gesungen – und im Saal als Übersetzung mitzulesen.

Das abschließende Drama "Koi no omoni" macht dann noch einmal deutlich, wie trotz, oder gerade aufgrund der langsamen und formalisierten Bewegungen eine dramaturgische Brillanz zum Vorschein kommt, die fesselnd ist. Ein Darsteller trägt ein orangenes Paket auf die Bühne, angekündigt als „die Last der Liebe“.

Ein einfacher Gärtner, der sich in eine Dame vom kaiserlichen Hof verliebt hat, soll sie heben und „hundertmal, tausendmal“ um den Garten tragen. Mit einer ergreifenden Shiori-Geste, das unterdrücktes Weinen symbolisiert, scheitert er und stirbt.

Der Darsteller bekämpft unsichtbare Geister

Im zweiten Teil kehrt er als Dämon wieder, mit weißen Haaren und der gespenstischen Myoga-Akujo-Maske. Er will Vergeltung üben, wird aber letztlich von den Qualen der Demütigung und der enttäuschten Liebe erlöst.

Obwohl vor hunderten Jahren auf der anderen Seite der Erde entstanden, ziehen die universellen Thema die Zuschauerinnen und Zuschauer, die sich auf die Erfahrung einlassen, in den Bann.

Nach der Zugabe, ein getanzter Kampf eines Darstellers gegen unsichtbare Geister im Maibayashi-Stil, also ohne Maske und Kostüm, bleibt der Eindruck eines außergewöhnlichen Abends, der über die Demonstration von Präzision und Schauspielkunst hinaus demütig macht vor der weltweiten Vielfalt des Theaters.

Jakob Wittmann

Zur Startseite