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"Inori" mit Diego Vasquez und Winnie Huang in Luzern.

© Priska Ketterer/Lucerne Festival

Musikfest Berlin 2018: Göttliche Gesten

1974 schuf Karlheinz Stockhausen „Inori“ für Tänzer und Orchester. Zum Finale des Musikfests ist das Meisterwerk jetzt in Berlin zu erleben

Im Foyer des Luzerner Konzerthauses sitzt ein sichtlich bewegter Wolfgang Rihm. „Dieses Stück hat keinen Vorläufer und auch keine Nachfolge. Es ist ein Solitär“, schwärmt der Komponist von „Inori“, dem 1974 uraufgeführten Werk seines Komponistenkollegen Karlheinz Stockhausen, das gerade verklungen ist. „Es ist wie ein Naturvorgang, der quasi aus dem Nichts beginnt, aus einem einzelnen Ton der Mittellage, einem G, und sich dann Schritt für Schritt entfaltet zu ungeheurer Kraft und Schönheit. Dieser Orchesterklang ist ein ganz eigener, ich kenne nichts, was damit vergleichbar wäre.“

„Inori“ ist nur äußerst selten live zu erleben, denn diese „Anbetung für zwei Solisten und großes Orchester“ fordert alle Beteiligten aufs Äußerste. Das Lucerne Festival hat die Mühen nicht gescheut, zwei Mal war das Stück beim noblen Sommerfestival am Vierwaldstättersee zu erleben. Am 18. September folgt nun eine Aufführung in Berlin, zum Finale des Musikfests in der Philharmonie.

Die Tänzer agieren in 2,50 Metern Höhe über dem Orchester

Die „Inori“-Partitur fordert eine Riesenbesetzung. Neben den üblichen Streichern und Bläsern auch einen Flügel, Klangplatten, eine Holzpeitsche, Vibraphon, Zimbeln, einen indischen Schellenkranz und 16 metallische Rin-Glocken. Direkt vor dem Pult des Dirigenten muss zudem ein 2,50 Meter hohes Podest aufgebaut werden, auf dem sich die beiden Tänzer bewegen. Aus 13 global gültigen Gebetsgesten hat Stockhausen eine äußerst komplexe Choreografie für sie erdacht, bei der jede Bewegung geradezu detailversessen festgelegt ist. 1020 Takte lang müssen die beiden Solisten einem strengen Regelwerk folgen, ebenso gibt Stockhausen für die Musikerinnen und Musiker sämtliche Parameter exakt vor, von der Tonhöhe über das Tempo und die Lautstärke bis hin zur Klangfarbe.

Um die sinnliche Schönheit von „Inori“ – japanisch für Gebet – zu erfassen, muss der Zuschauer das alles aber gar nicht wissen. Im Gegenteil, je mehr er vorher über Stockhausens Gedankengebäude erfährt, desto schwerer fällt es ihm, in der Aufführung nicht auf die Gesten-Grammatik zu achten und sich einfach der optisch-akustischen Magie hinzugeben. Denn darauf kommt es an, fast wie bei einer Meditationssitzung: sich zu öffnen, sich auf das Ungewohnte einzulassen, den Alltag abzuschütteln. Dabei hat man viel Zeit, die Atmosphäre zu erspüren: „Inori“ beginnt mit einer langen, zeremoniell wirkenden Einleitung, bei der das Orchester immer wieder einzelne Akkorde wiederholt, sanft und archaisch, würdevoll und exotisch zugleich.

Da sind die asiatischen Glocken, die Horn- und Trompetensignale, die aus weiter Ferne herüberwehen . Und da sind natürlich die Gebetsgesten der Tänzer. Die erste halbe Stunde lang knien sie auf ihrer Spielfläche über den Köpfen der Orchestermitglieder und sprechen wortlos mit weichen, fließenden Bewegungen zum Publikum: Sie legen ihre Hände vor der Brust aneinander, verschränken die Finger, lösen sie wieder, führen die Handflächen vors Gesicht oder strecken sie aus, wie zum Empfang einer Botschaft. Dann wieder werden die Arme nach vorne oder zur Seite ausgebreitet oder eine Hand liegt lauschend am Ohr. Wolfgang Rihm erkennt in dieser ausgeklügelten Gestensprache eine „Bewegungsmelodik“.

Vor 44 Jahren, bei der Uraufführung im Rahmen des Avantgarde-Festivals von Donaueschingen, stieß die Partitur auf Unverständnis, ja wurde geradezu verspottet. „Schadenfrohes Gelächter“ hörte Tagesspiegel-Kritiker Wolfgang Burde allenthalben nach der Aufführung, die ihm „peinlich“ erschien. Die szenische Seite bewegte sich für Burde „in der Sphäre des Grotesken“, musikalisch bemängelt er besonders die Passagen, „die fatal an Bigbandsound erinnern“. Auch Wolfgang Rihm weiß noch, wie ablehnend die Besucher reagierten: „Inori wurde als privatmythologische Veranstaltung wahrgenommen. Ich dagegen war total hingerissen von dieser Musik, habe sie überall verteidigt. Und ich ernähre mich noch heute von diesen ersten ,Inori’-Eindrücken.“

Seit 1974 ist "Inori" dem Publikum entgegen gewachsen

2018, elf Jahre nach Stockhausens Tod, ist die Zeit vielleicht reif für dieses Werk. Weil es zum einen angesichts der Weltlage ein großes Bedürfnis nach Spiritualität gibt, nach religiösen Schutzräumen. Und weil zum anderen die Optik wie die Ideen von Buddhismus und Shintoismus, von Sufi und Zen mittlerweile für viele zum Erfahrungsschatz gehören. Über die Jahrzehnte ist „Inori“ dem Publikum gewissermaßen entgegengewachsen. Wolfgang Rihm, dem das „Synkretistische von Religiositäten“ eigentlich wesensfremd ist, bekennt nach der Wiederbegegnung in Luzern: „Ich habe heute zum ersten Mal auch die Gestik verstanden. Wie Musik durch Bewegung erzeugt wird und gleichzeitig ihrerseits Bewegung erzeugt, diese Einheit konnte ich jetzt erst aufnehmen.“

Als Leiter der Lucerne Festival Academy in der Nachfolge des Gründers Pierre Boulez hat Rihm das „Inori“-Projekt anlässlich des 90. Geburtstags von Stockhausen angestoßen. Ein ganzes Jahr mussten die Tänzer trainieren, um die Choreografie zu verinnerlichen, intensiv hat auch Peter Eötvös mit den 90 jungen Musikerinnen und Musikern geprobt, die sich bei der Akademie beworben haben, um Neue Musik zu erlernen. Zusätzlich studierte Eötvös die Partitur auch noch mit drei jungen Dirigenten ein – damit sich die Aufführungsgeschichte von „Inori“ fortsetzen kann. Derzeit beherrschen nämlich nur er und David Robertson das Werk, beide haben es noch unter Anleitung des Komponisten selber kennengelernt.

Im Laufe der 70 Minuten werden die Klangfarben immer leuchtender

Es muss eine skurrile Séance gewesen sein, damals in der Küche von Stockhausens Haus in Kürten bei Köln, als der wie gewohnt in kultisches Weiß gehüllte Meister einer Handvoll Getreuer die Komposition zum ersten Mal präsentierte. Dem Tänzer Alain Louafi hatte Stockhausen einen Platz auf dem Küchentisch zugewiesen, er selber postierte sich, mit dem Taktstock in der Hand, direkt davor – und sang dann das gesamte 70-minütige Werk vor.

Neugierige junge Menschen mit Lust auf Zeitgenössisches: die Lucerne Festival Academy
Neugierige junge Menschen mit Lust auf Zeitgenössisches: die Lucerne Festival Academy

© Manuela Jans-Koch / Lucerne Festival

Der junge Peter Eötvös war damals dabei. „Wenn ich ,Inori’ dirigiere, dann höre ich immer noch seine Stimme“, berichtet er. Darum versucht der ungarische Komponist und Dirigent, das Spiel von Musikern wie Tänzern stets aus dem Gesang heraus zu entwickeln. „Belegt“ nennt Wolfgang Rihm den Orchesterklang zu Beginn, bevor dieser sich im zweiten Teil zu „höchster Farbpracht“ entfaltet. „Man merkt deutlich, dass Stockhausen aus einer großen musikalischen Tradition stammt, von Olivier Messiaen her, der ja wiederum Schüler von Paul Dukas war. Das alles ist in ,Inori’ wirksam.“

Auch der Laie kann ganz leicht mitverfolgen, wie sich die Instrumentalklänge verändern, wie das akustische Aquarell des Beginns allmählich immer mehr Lichtgrade erhält und an Strahlkraft gewinnt, bis hin zur schillernden Polychromie, zum fantastischen Fortissimo des Ekstase-Moments. Dann stehen die beiden Solisten erstmals auf und recken die Arme gen Himmel. Doch dieser Zustand währt nicht lange, bald verlassen die Tänzer ihr Podium, um gemessenen Schrittes von der Bühne abzugehen, während ihre Hände sich immer wieder zu einem stilisierten, fliegenden Adler vereinen. Einsam klingt dann der Schellenkranz im Raum, lange und zart, als würden Zikaden in südlicher Nacht singen.

Philharmonie, Dienstag, 18.9., 20 Uhr, weitere Infos: www.berlinerfestspiele.de

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