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Musik-Crossover: Träumereien mit Sprengkraft

Tango trifft Jazz trifft Klassik: Das Berliner Quartett Vibratanghissimo spinnt Astor Piazzolla weiter. Sie kombinieren Piano, Kontrabass, Vibrafon und Viola und entwickeln damit einen ganz eigenen Stil. Ein Probenbesuch.

„Wir sind viel zu nett“, findet Bratschist Juan Lucas Aisemberg und setzt den Bogen ab. „An dieser Stelle muss es wie eine Explosion klingen!“ Astor Piazzollas Stück „Contrabajeando“ erhält den letzten Schliff. Aisemberg hat es für das neue Album arrangiert und dem einleitenden Kontrabass eine schöne, schroffe Stimme gegeben. Zwei Versuche noch, und der abrupte Wechsel vom leisen Intro zum bewegten Thema bekommt die gewünschte Sprengkraft.

Zur Feinabstimmung vor dem nächsten Konzert haben sich die vier Musiker in der Charlottenburger Wohnung der Pianistin eingefunden. Glücklicherweise stört das die Nachbarn nicht. Unten wohnt eine Violinistin, nebenan ein Bogenbauer, oben ein Jazzbassist. „Die Proben“, erklärt Vibrafonist Oli Bott, „bringen uns ständig auf neue Ideen, sie sind für uns wie gemeinsames Atmen.“

Zum Luftholen verzichtet die Band allerdings auf den Balg eines Bandoneons. Stattdessen sorgt ein Vibrafon für frischen Wind. Bott, der einzige Jazzer in der Gruppe, studierte am Berklee College of Music bei Gary Burton, einem der großen Lyriker unter den Vibrafonisten. Von diesem Instrument war auch Piazzolla, Bandoneonist und Schöpfer des Tango Nuevo, fasziniert. Eigens für Burton hatte er eine Suite für Vibrafon geschrieben, die beide gemeinsam 1986 auf dem Jazzfestival in Montreux aufführten. Ein Stück Musikgeschichte, von dem sich das Berliner Quartett inspirieren ließ.

„Tango meets Jazz“ heißt es deshalb auf dem ersten, 2006 erschienenen Album von Vibratanghissimo, einer Hommage an Astor Piazzolla. Doch eigentlich treffen hier Tango, Jazz und Klassik aufeinander. Denn außer Bott spielen die drei anderen Musiker sonst in klassischen Ensembles: Kontrabassist Arnulf Ballhorn an der Komischen Oper, Juan Lucas Aisemberg an der Deutschen Oper, während die freischaffende Pianistin Tuyêt Pham bereits mit allen wichtigen Berliner Orchestern zusammengearbeitet hat. Auch dass die Instrumente bei Vibratanghissimo gleichberechtigt alle Stimmen führen können, erinnert eher an ein klassisches Streichquartett.

Sie ergänzen einander und finden auf wunderbare Weise zusammen: Ballhorn, der ebenso wie das Piano den Takt vorgibt, hat seinem Kontrabass eine fünfte, höhere Saite verpasst, die klanglich der tiefsten Stimmung der Bratsche entspricht und dem großen Instrument die Schwere nimmt. Pham ist am Flügel zwar das Gravitationszentrum und kann sogar die Bässe übernehmen, dem Vibrafon aber kommt sie nicht in die Quere. Bott nutzt das Vibrafon mal als sanftes Schlagzeug, mal als Piano, bringt allerlei Akkordeffekte hervor und zieht dennoch mit seinen vier Schlegeln eine hörbar feine Grenze zu den Hämmern des Flügels. „Die Ähnlichkeit zueinander“, sagt Bott, „befreit das jeweils andere Instrument.“

Der Bezug auf Piazzolla ist daher Programm. Juan Lucas Aisemberg, der im europäischen Exil geborene und aufgewachsene Sohn argentinischer Musiker, reiste nach dem Fall der Militärdiktatur erstmals nach Buenos Aires, wo er „eine strikte Trennung von Tango und Klassik“ beobachtete. Piazzolla aber war es gelungen, sie in einem Befreiungsschlag aufzuheben. Er reicherte den traditionellen Tango mit neuen Harmonien, Taktsprüngen, kantigen Melodien und Jazzelementen an, machte ihn mit Bartók, Ravel und Schönberg bekannt. Doch vor allem lässt seine Musik Raum fürs Improvisieren. „Wenn wir Piazzollas Stücke spielen und sie aufsprengen“, so Bott, „überraschen wir uns jedes Mal selbst. Und das setzt eine ganz neue Energie frei.“

Die haben sich auch die beiden überwiegend klassisch geschulten Mitglieder der Band zu eigen gemacht: Tuyêt Pham, Tochter vietnamesischer Eltern aus Paris, studierte dort Klavier am Conservatoire National Supérieur; Arnulf Ballhorn, der aus Süddeutschland stammt, schloss sein Kontrabass-Studium an der Berliner HdK mit dem Konzertexamen ab. Seine Tango-Affinität vergleicht Ballhorn mit dem historischen Vorbild des Genres: „Auch beim ursprünglichen Tango trafen ganz unterschiedliche Musiker im Exil aufeinander, um gemeinsam zu träumen.“

Vor zehn Jahren gaben Vibratanghissimo ihr erstes Konzert in Berlin, etliche Auftritte sowie Tourneen durch Deutschland, die Schweiz und Italien folgten. „Wir haben unsere gemeinsame Sprache gefunden, jetzt können wir erzählen“, schmunzelt Ballhorn. Das kürzlich erschienene Album „Ciudades ... Berlin“ (Big Tone Records) ist der Auftakt zu einer CD-Trilogie, die den Tangometropolen Berlin, Buenos Aires und Paris gewidmet ist. Auch hier verschreiben sich Vibratanghissimo der Idee des Tangos im Glanz seiner Möglichkeiten. Oli Bott, der vier Eigenkompositionen beigesteuert hat, nennt sein Stück „Berlin“ augenzwinkernd „eine türkische Samba“. Es ist Teil einer Suite, die wie ein raffinierter Fall durch die Spiegel der Großstadt klingt, träumerisch, markant und verwegen.

Das Tango-Feeling überkam Bott während seines Studiums in Berklee. Dort tauschte er sich mit argentinischen Kommilitonen aus, die Begeisterung für Piazzolla und später die Begegnung mit Aisemberg vertieften sein Gespür für die besondere Stimmung. „Und im kulturell offenen Berlin haben wir die unterschiedlichsten Musiker, aufgeschlossene Ohren und viele Auftrittsorte, um uns weiterzuentwickeln“, sagt Bott. Wiederholt sind Vibratanghissimo auf den Lunchkonzerten in der Philharmonie zu hören gewesen, jetzt spielen sie im Jazzclub A-Trane, wo sie ihr neues Album vorstellen.

Also zurück zur Probe. Aisemberg gleitet und stürzt auf seiner Viola durch die Melodien, Ballhorn bearbeitet den Kontrabass mit Bogen und Fingerkuppen, am Flügel schwelgt Pham zwischen elegischen Legati und pointierten Staccati, während Bott das Geschehen auf den Metallplatten elegant kommentiert. „Hier hat mir das Accelerando etwas gefehlt“, merkt der Vibrafonist plötzlich an. Doch die Frage nach dem Tempo wird keine knifflige Tüftelei, sondern das intuitive Ausloten weiterer Möglichkeiten. Zum Schluss zeigen sich alle zufrieden. Thuyêt Pham strahlt: „Wir verstehen uns ohne Worte!“

CD-Release-Konzert am heutigen Dienstag, 17. 1., um 22 Uhr im  A-Trane

Roman Rhode

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