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Im Bann des Bösen. Mark Seibert als Graf von Krolock und Veronica Appeddu als Sarah in „Tanz der Vampire“.

© Stage Entertainment

Musicalbranche im Umbruch: Reißzahn im Vergnügungsviertel

Musical in Deutschland: Weil der Unterhaltungskonzern Stage Entertainment an der Kunst sparen muss, schlägt jetzt die Stunde der Stadttheater

Nein, mit Joop van den Ende braucht niemand Mitleid zu haben. Der Holländer war schon märchenhaft reich, bevor er im vergangenen Jahr 60 Prozent seines Unterhaltungskonzerns Stage Entertainment an einen Luxemburger Finanzinvestor (CVC) verkaufte. Und doch schmerzt es, mit ansehen zu müssen, wie die neuen Mehrheitseigentümer mit seinem Lebenswerk umspringen. Nach allen Regeln des renditeorientierten Raubtier-Kapitalismus nämlich. 18 Musical-Theater betreibt Stage Entertainment in acht Ländern, von den rund 3000 Mitarbeitern arbeiten allein in Deutschland rund 1700. Aber nicht mehr lange. Denn während Joop van den Ende durchaus eine Art Volksbildungsauftrag empfand, solange er sein Unternehmen allein regierte, schauen die neuen Herren nur noch auf eines: die Zahl am Ende der Bilanz. Und da stand am Ende des Geschäftsjahres 2015 nun einmal ein dickes Minus von 19 Millionen Euro.
Früher hätte die der Firmengründer wohl lässig aus der Privatschatulle zugeschossen. Weil es ihm darum ging, Menschen für die Bühnenkunst zu begeistern, niedrigschwellige Angebote zu machen. Das galt zwar nicht für die Preise – da er für seine Musicals nie Subventionen erhalten hat –, aber doch für die Inhalte. Ein Fünftel der Besucher beim „König der Löwen“ in Hamburg haben noch nie zuvor ein Theater betreten. Und wenn sie dann erst einmal drin sind, in einem der Van-den-Ende-Häuser, finden sie sich dort in den Foyers von zeitgenössischer Malerei umgeben, die aus der Privatsammlung des Eigners stammt. Überhaupt ist die Ausstattung der Gebäude dazu angetan, bei so manchem Stadttheaterintendanten Neidgefühle auszulösen.

Die Zukunft des Theaters am Potsdamer Platz ist offen

Die Gemälde und Skulpturen zur Geschmacksbildung des Publikums darf er vermutlich weiterhin in den Pausenhallen stehen lassen. Im Übrigen aber wird in der Amsterdamer Zentrale jetzt nach einem geänderten Libretto gespielt. Die Finanzinvestoren hatten kein Problem damit, als erste Amtshandlung die beiden prestigeträchtigsten Projekte der Firma dichtzumachen: die nach dem Gründer benannte Nachwuchs-Akademie in Hamburg nämlich und das Theater am Potsdamer Platz. Nicht etwa die Bühne in Oberhausen, auch nicht eines der beiden Häuser vor den Toren Stuttgarts oder eines der vier Theater in Hamburg. Nein, jener vom Stararchitekten Renzo Piano geschaffene Saal mit 1750 Plätzen im Herzen der Hauptstadt musste es sein, der auch als Berlinale-Palast bekannt ist.
Wenn Ende August dort das Udo-Lindenberg-Wendical „Hinterm Horizont“ abgespielt ist, wird gleich die ganze Bude dichtgemacht. Weil angeblich im gesamten Portfolio des Unternehmens kein Nachfolgestück zu finden ist, das Gewinn verspricht. Dadurch lassen sich 100 von den bis zu 350 Mitarbeitern freisetzen, die im Rahmen des Sparkurses ihren Job verlieren. Wie die Immobilie, für die Stage Entertainment einen Mietvertrag bis 2022 unterschrieben hat, künftig genutzt werden kann, muss sich jetzt das deutsche Management einfallen lassen.
Besonders brutal – und rufschädigend – ist auch die Schließung der Joop-vanden-Ende-Academy in Hamburg. Sicher, die Schule war immer ein Zuschussgeschäft, doch war man auch stolz darauf, dort den eigenen Nachwuchs heranzuziehen, um nicht mehr nur als Schmarotzer von der Ausbildung an den staatlichen Hochschulen zu profitieren. Nachdem es zunächst hieß, im Sommer sei Schluss, konnte zumindest für die Studierenden, die sich derzeit im zweiten Jahr der dreijährigen Ausbildung befinden, der Abschluss 2017 gesichert werden.

Die deutsche Sektion der Stage wird geschwächt

Am härtesten aber wird die deutsche Sektion der Stage von der Entscheidung geschwächt, dass „die Entwicklung von Stücken künftig stärker international gesteuert wird“, wie es Pressesprecher Stephan Jaekel formuliert. In der Praxis bedeutet das nichts anderes als die Entmachtung der Hamburger Kreativabteilung. Dabei hatte man sich doch gerade mit Eigenproduktionen profilieren wollen. „Rocky“ und „Ich war noch niemals in New York“, „Hinterm Horizont“ und zuletzt die Musical-Version von Sönke Wortmanns Fußballfilm „Das Wunder von Bern“ wurden von der Stammkundschaft gut angenommen und haben damit den Beweis erbracht, dass nicht nur Importware vom Broadway oder aus dem West End hierzulande für volle Säle sorgt. Michael Hildebrand, der „Director Strategy and Development“, hat bereits die Konsequenzen gezogen und das Unternehmen Anfang April verlassen.

Konzeptionell ist damit erst einmal die Luft raus bei der 2000 gegründeten deutschen Sparte. Die Lindenberg-Show wird wohl nach Hamburg weiterwandern, wo sie „Die Liebe stirbt nie“ ablöst, die schon in London gefloppte Fortsetzung des „Phantoms der Oper“ von Andrew Lloyd Webber.
Das Theater des Westens verkommt unterdessen zur Resterampe, neben der „Blue Man Group“-Bühne die dritte Stage-Immobilie in der Hauptstadt. Seit der Erfahrung, dass die Musical-Gemeinde Experimente überhaupt nicht zu schätzen weiß – wie jenes mit der Pferdepuppen-Show „Gefährten“ –, werden an der Kantstraße nur noch erprobte Blockbuster in kurzen Laufzeiten gezeigt.

Jetzt können die Stadttheater zeigen, ob sie Musical können

Seit Sonntag läuft im TdW wieder TdV, also die 1997 von Roman Polanski selber verantwortete Musicalisierung seiner 1968er-Kinogroteske „Tanz der Vampire“. Zwei Mal schon wurden Klonversionen des Stücks hier gezeigt, am vergangenen Sonntag sind die Fans bei der Premiere dennoch – oder gerade deshalb – high vor Wiedererkennungsglück, bejubeln jede einzelne Nummer, tragen die Darsteller auf Händen durch den akustisch von Jim Steinmans Pathos-Rock aufgepimpten Drei-Stunden-Abend. 50 000 Tickets sind bereits verkauft, im Oktober folgt dann „Sister Act“.
Die luxemburgische Heuschrecken-Plage, die Gründer Joop van den Ende eigenhändig über Stage Entertainment gebracht hat, ist bitter für alle, die bisher in dem Unternehmen dafür gekämpft haben, Kunst zu machen. Und gleichzeitig eine Chance für die deutschen Stadttheater: die nämlich können jetzt zeigen, was sie in diesem Genre inzwischen zu bieten haben. Die Operetten-Produktion, die selbst von dünkelhaft denkenden Intendanten stets als sichere Cash Cow im Saisonprogramm eingeplant wurde, ersetzt mittlerweile vielerorts ein Musical. Weil die staatlich subventionierten Bühnen nicht darauf achten müssen, dass ihre Shows gleich für Zehntausende massenkompatibel sind, erleben innovative Off-Broadway-Shows ihre deutsche Erstaufführung oft in kleinen und mittleren Städten. Außerdem werden hier Klassiker des Genres gepflegt. Das Fachmagazin „Musicals“ berichtet in der aktuellen Ausgabe allein über 13 deutsche Neuproduktionen, darunter „Copacabana“ in Coburg, „Next to Normal“ in Dortmund oder „Kiss me, Kate“ in Nürnberg.

Das Zukunft des Genres ist gesichert, Nachwuchs gibt's reichlich

Die Staatsoperette Dresden, bundesweit das einzige Spezialtheater für die leichte Muse, hat sechs Musicals im Repertoire, Magdeburg lädt ab 17. Juni wieder zur einer Musical-Freiluftproduktion vor der Domkulisse, diesmal wird der unkaputtbare Hippie-Hit „Hair“ gespielt. Und in Hildesheim, wo die niedersächsische Landesbühne ihren Sitz hat, gibt es neben der Opern- und der Schauspieltruppe sogar ein eigenes zehnköpfiges Musical-Ensemble, das in dieser Saison mit Stücken wie den „Blues Brothers“ oder Frank Wildhorns „Dracula“ über die Dörfer zieht. Der bestens ausgebildete Nachwuchs aus den staatlichen Hochschulen macht es möglich. Wer einmal beim „Bundeswettbewerb Gesang“ erlebt hat, was diese im Tanzen, Singen und Schauspielern gleichermaßen geschmeidigen Multitasker auf die Bretter bringen, macht sich keine Sorgen mehr um die Zukunft des Genres in Deutschland. Stilistisch wird die von der künstlerisch kastrierten Stage Entertainment wohl bald nicht mehr dominiert. Ein Übriges dürfte die Preisstruktur regeln: Während bei Stage in Oberhausen selbst auf den billigsten Plätzen 54 Euro zu berappen sind, kostet in Hildesheim selbst bei der Premiere keine Eintrittskarte mehr als 35 Euro.

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