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Durstige Region. Im Jahr 1952 füllen Frauen Wasserkrüge in Murcia.

© Museum Europäischer Kulturen/Erika Groth-Schmachtenberger

Murcia in Südspanien: Wo die guten Zitronen reifen

Murcia gilt als Garten Europas – und ist immer öfter Ziel von Auswanderern. Die Ausstellung im Museum Europäischer Kulturen durchstreift die südspanische Region.

Wie schmeckt wanderndes Gemüse? Wir essen es jeden Tag, in den Supermärkten quellen die Steigen über davon. Oft reisen die Paprika, Zucchini, Salate und vor allem die Zitronen aus der südwestspanischen Region Murcia an. Deutschland gehört zu den Hauptabnehmern, aber auch China oder Schweden ordern die sonnengereiften Vitamine vom Mittelmeer. Den industrialisierten Anbau unter Folientunneln ermöglichen Menschen aus aller Welt.

Auch sie sind Wandernde. Migration ist ein Phänomen, das Personen wie Objekte betrifft. Sogar das Wasser für die üppige und bei uns so preisgünstige Ernte aus der „Huerta“, dem Garten Europas, strömt von weither aus dem Norden Spaniens herbei. Die Kanäle stammen noch aus der Franco-Ära. Denn ohne künstliche Bewässerung wäre das Land eine Wüste. Schon die Araber im Mittelalter verstanden das kostbare Nass in der Region trickreich umzuleiten und zu nutzen.

Eine spannende und wenig bekannte Gegend auf Europas Landkarte hat sich das Museum Europäischer Kulturen in Dahlem diesmal herausgepickt, um sie in einer vielschichtigen Ausstellung zu beleuchten und zudem in den Europäischen Kulturtagen mit allen Sinnen erfahrbar zu machen. Dass dies keine idyllisch-folkloristische Urlaubsreise durch südliche Gefilde wird, macht die Ausstellungsarchitektur gleich beim Eintreten klar.

Wie frisch vom Großmarkt angeliefert stapeln sich bis unter die Decke stabile grüne Kunststoffkisten, in denen sonst Obst und Gemüse um die Welt reist. „Absolut nachhaltig“, meint Direktorin Elisabeth Tietmeyer: Die Klappboxen werden nach Ausstellungsende wieder in den Kreislauf der Waren eingespeist. Jetzt taugen sie als Sockel und Vitrinen, bestückt mit Fotos, Kurztexten, Videobildschirmen und Alltagsdingen von der Stielhacke bis zum Kleidungsstück. Aber, so betont die Ethnografin: „Menschen, nicht Objekte spielen bei uns die Hauptrolle.“

In Interviews und vor Ort gedrehten Kurzfilmen kommen die Einwohner Murcias zu Wort. Ebenfalls im Museumsauftrag durchstreifte Fotograf Göran Gnaudschun die Region. Seine unspektakulären, ruhigen Aufnahmen zeigen zermatschte Orangen, Ferienhäuser aus Beton, karge Landschaftsweite, Menschengesichter. Zum Beispiel Amigr und Anass aus Marokko, ernst und cool mit ihren Basecaps. Oder Hildaria, eine junge Frau aus Venezuela, die vor der Mafia floh. Der betagte Pepe hingegen arbeitete 31 Jahre in Süddeutschland bei der Post, bevor er in seine spanischen Heimat zurückkehrte.

Eine jahrtausendealte Geschichte der Kulturkontakte

Sie alle suchen: „Das bessere Leben“, so der Titel der Fotoserie und des Begleitbuchs. Murcias Migranten kommen mit oder ohne Erlaubnis, mit leeren Taschen oder einer auskömmlichen Rente. Tatsächlich, so berichtet der nach Spanien ausgewanderte Anthropologe und Berater des Ausstellungsteams Klaus Schriewer, nimmt die Altersmigration in Murcia zu. Auch deutsche Pensionäre schätzen das Klima. Wer zum Urlaub kommt, bleibt gern auf Dauer. Die Golfanlagen verschärfen die Wasserknappheit.

[Museum Europäischer Kulturen, Arnimallee 25, bis 27.3.; Di bis Fr 10-17 Uhr, Sa/So 11-18 Uhr. Programm der 17. Europäische Kulturtage unter: www.smb.museum/veranstaltungen]

Dass dieses Stück Europa auch eine jahrtausendealte Geschichte mit Kulturkontakten zu Syrern, Römern, Karthagern, Westgoten und Mauren hat, blitzt in der facettenreichen Schau nur am Rande auf. Kunsthistorische Exkurse oder architektonische Sehenswürdigkeiten haben hier keinen Platz. Dafür erzählen mitgebrachte Alltagsgegenstände vom Leben vor Ort und den in ihnen gespeicherten Traditionen und Erinnerungen. Fast mannshoch ist das bauchige Tongefäß, das Klaus Schriewer aus dem Garten seines alten Landarbeiterhauses in die Ausstellung wuchten ließ. Eine metallene Schöpfkelle baumelt daran.

Aus solchen „Tinajas“ schöpfte die Landbevölkerung früher das kostbare, gesammelte Regenwasser, auch zum Trinken, wie er erzählt. Ein graziler Flechtkorb, einer Reuse ähnlich, macht die Besucher mit dem regionaltypischen Pflanzenmaterial Espartogras bekannt. Solche früher speziell für den Schneckenfang gefertigten Körbchen verkauft der 24-jähriger Flechter, der das Stück als Leihgabe beisteuerte, heute vorrangig als Deko-Objekte. Eine aus Ecuador eingewanderte Marinesoldatin dagegen stellte ihre Militärkappe mit Camouflagemuster zur Verfügung.

Die Kuratorinnen arbeiten daran, Klischees zu unterlaufen

Hunderte, tausende Arbeitsstunden stecken in den farbenprächtigen Seidenstickereien auf Umhängen, die die Bruderschaften in Lorca nur am Karfreitag zur Schau tragen. Sie rivalisieren dabei wie Fußballmannschaften. Daneben in einem Video ringeln sich Seidenraupen in Nahaufnahme: In Murcia hat die Seidenproduktion lange Tradition. Pointiert verflechten sich in der Ausstellung Gegenwart und Geschichte.

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Aus einem Videokopfhörer scheppert Metall auf Metall, herber Gesang mischt sich unter die Industriegeräusche: Bis vor 100 Jahren zog der Bergbau, seit Römerzeit in Murcia lukrativ, Arbeitssuchende von weither an. Aus dem Gesang der Minenarbeiter entstand eine spezielle Form des Flamencos. „El cante de las minas“ heißt das weltberühmte Festival in der Stadt La Unión. Mehr von dieser Facette Murcias bringt das Veranstaltungsprogramm zu Gehör.

Auch historische Fotografien aus dem Archiv des Museums fügen sich in das Mosaik aus Objekten und Geschichten. Die im 19. Jahrhundert aufgenommen Szenen von Landleuten bedienten oft schon damals folkloristische Stereotype. Die Kuratorinnen arbeiten daran, Klischees zu unterlaufen und ein komplexeres Bild zu zeichnen. Unscheinbarstes Objekt ist ein schlaffes, leeres Zitronennetz. Der nebenstehende Text ermuntert dazu, die Kürzel auf dem Bioetikett genauer zu studieren. Steht etwa „MU“ darauf? Dann haben die Früchte die Sonne Murcias gekostet.

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