zum Hauptinhalt
Lungenvolumen eines kleinen Wals. Für den chinesischen Musiker Wu Wei ist es ein subtiler Hochleistungssport, die Sheng zu spielen.

© Promo

Mundorgel-Virtuose Wu Wei: 37 Pfeifen, eine Welt

Wu Wei ist der führende Virtuose der jahrtausendealten Mundorgel Sheng. Eine Begegnung in seiner Wahlheimat Berlin.

Von Gregor Dotzauer

Was, wenn das Instrument uns spielen würde und nicht wir das Instrument, fragt er gerne. Angesichts der vier Kilogramm, die Wu Weis Sheng mit den 37 steil aufragenden Klangpfeifen wiegt, klingt das nicht nur deshalb unwahrscheinlich, weil er sie in Konzerten bis zu zwei Stunden frei zwischen den Händen balanciert.

Die chinesische Mundorgel beansprucht auch das Lungenvolumen eines kleinen Wals. Und doch zielt diese Verkehrung des Blicks auf eine Musik, die sich als Teil eines größeren Ganzen versteht, auf die Auflösung der Pole Interpret und Stück, Kunst und Natur. Wenn Wu Wei „Tanzende Blätter auf dem Bach“ aufstieben lässt, wie auf seinem Soloalbum „Utopian Trace“, oder wenn er sich auf „Overtones“ zusammen mit dem Maultrommelspieler Wang Li das Glitzern von „Sonne und Schnee“ vornimmt, ist das keine in Nachahmung gefangene Tonmalerei. Es ist das Erscheinen von universalen Phänomenen im Medium der Musik.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Diese ausgesprochen chinesische Betrachtungsweise mitsamt ihrer Bildhaftigkeit hat Wu Wei vor 22 Jahren nach Berlin mitgebracht, wo er mit inzwischen deutschem Pass lebt, und er trägt sie hinaus in alle Welt. Niemand spielt die gut 3000 Jahre alte Sheng virtuoser als er, und wenn ihm rein technisch vielleicht eine Handvoll anderer Musiker das Wasser reichen kann, kommt ihm in puncto stilistische Vielfalt doch keiner gleich.

Mit der Berliner Lautten Compagney spielt er Barockmusik. Mit dem französischen Akkordeonisten Pascal Contet stürzt er sich in freie Improvisationen, aus denen die schimmernden Klanggestalten von „Iceberg“ hervorgingen. Mit Stefan Schultzes Large Ensemble wirft er die „Erratic Wish Machine“ an, ein Bravourstück des zeitgenössischen Bigband-Jazz. Mit „Šu“ widmete ihm die aus Korea stammende, gleichfalls seit einer halben Ewigkeit in Berlin ansässige Unsuk Chin eines ihrer irisierenden Orchesterkonzerte.

Der in Montreal lehrende Deutsch-Inder Sandeep Bhagwati, einer der Vordenker traditionsübergreifenden Komponierens, lud ihn kürzlich zu „Niemandslandhymnen“ ein, einem Text-Musik-Theaterprojekt gegen die Abschottung im Nationalen. Wu Wei, der mit den Berliner Philharmonikern, den Bamberger Symphonikern oder dem Los Angeles Philharmonic Orchestra unter den besten Dirigenten gespielt hat, kann sich vor Anfragen kaum noch retten. Die Professur in Schanghai, die er zwischen 2013 und 2016 innehatte, hat er gekündigt. Das Hin und Her wurde ihm zu anstrengend, auch wegen seiner Familie in Berlin.

Wu Wei: „Auf Tourneen brauchst du eine Tonne Kraft“

An einem Mittwochmorgen sitzt er in seinem Schöneberger Studio und serviert Tee und Kekse, während der Sommer durch die offenen Fenster kriecht. „Auf Tourneen brauchst du mindestens eine Tonne Kraft“, sagt er. „Ich muss manchmal gegen 80 Orchestermusiker ankommen. Ob du laut oder leise spielst, wumm, die Luft ist weg. Du bist ein halber Sportler, also musst du täglich trainieren. Flatterzunge, Zirkularatmung, alles gegen die Natur! Du musst deine Energie über das Publikum werfen, über den ganzen Saal hinweg bis in die letzte Reihe und noch hundert Meter weiter. Sonst bist du von der ersten Sekunde an verloren, egal, wie schnell deine Finger sind.“

Das Studio hat den Charme eines alten Klassenzimmers, und tatsächlich war das Kulturhaus in der Kyffhäuser Straße zuvor eine Schule. Auf Regalbrettern stapeln sich Instrumentenkoffer. Zur Sammlung gehören zwei Guqins, in Deutschland kaum anzutreffende Exemplare der heute mit sieben Saiten versehenen Zither der daoistischen Gelehrten, die von Maos Kulturrevolution fast ausgerottet worden wäre. Eine bulgarische Gadulka mit einem knappen Dutzend Resonanzsaiten, die er streichen kann, weil er als Fünfjähriger bei seinem Vater, einem Musiklehrer, zunächst Erhu lernte, Chinas einsaitige Spießgeige. Dazu eine mongolische Pferdekopfgeige und ein Arsenal von Flöten aus aller Welt. „Ich liebe alle Instrumente“, sagt Wu Wei, und weil er auf Festivals immer wieder neue entdeckt, wächst sein Klangzoo unaufhörlich.

Vom kleinen bis zum dreigestrichenen G. Grifftabelle für die Sheng.
Vom kleinen bis zum dreigestrichenen G. Grifftabelle für die Sheng.

© Liza Lim

Die Sheng gehört wie das westliche Harmonium oder die Mundharmonika zur Familie der Durchschlagszungeninstrumente. In Korea nennt man sie Saenghwang, in Kambodscha Khaen, und in Japan, wo sie sich relativ ungehindert von politischen Umbrüchen behaupten konnte, heißt sie Sht. Der Ton wird durch frei schwingende Messingzungen in Bambusröhren erzeugt. Die einst ebenfalls aus Bambus und in ausgehöhlten Kürbissen montierten Zungen werden nach wie vor von Hand hergestellt. Das macht die Sheng empfindlich. Wer sich auf dieses Instrument einlässt, sagt Wu Wei lachend, verwendet 30 Prozent der Zeit aufs Spielen. Die anderen 70 Prozent gehören Reparaturen.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Viele Spielweisen, klagt er, seien über die Jahrhunderte verloren gegangen. Gehalten habe sich nur die ursprünglich aus China stammende Gagaku-Musik der japanischen Kaiserhöfe, die auch das von ihm mitgegründete Berliner Asian Art Ensemble pflegt. Inzwischen ist er nur noch regelmäßiger Gast der neunköpfigen japanisch-koreanisch-deutschen Truppe. Im Konzerthaus organisiert sie die Reihe „Durchschlagende Zungen“ und kommenden Dezember im Radialsystem wieder das Festival „Turbulenzen“.

Zu Zeiten der Tang-Dynastie besaß die Sheng 17 Pfeifen. Nach der Gründung der Volksrepublik im Jahr 1949, in einer Phase der Wiederaneignung, wurden sie schrittweise auf 25 bis zu heute meist 37 Pfeifen erweitert. Das traditionelle Repertoire mit den als Tabulatur erhaltenen Originalfingersätzen lässt sich auf ihnen nach wie vor fast unverändert spielen. Notiert wird heute allerdings mit dem in China üblichen Ziffernsystem Jianpu, wenn nicht in westlicher Notenschrift.

Erst in Berlin begriff er, was Improvisation ausmacht

Offen für Neues. Wu Wei erweitert das Sheng-Repertoire um Zeitgenössisches.
Offen für Neues. Wu Wei erweitert das Sheng-Repertoire um Zeitgenössisches.

© Promo

Wu Wei eroberte sich die Sheng vom 15. Lebensjahr an. Bald gewann er Wettbewerbe, bis ihn sein Professor fragte: Willst du denn auch schön spielen? Er wollte, zumal sein Vater, wie er sagt, zwar fast alle chinesischen Instrumente beherrschte, aber keines schön. Er ging nach Nanjing, die Hauptstadt von Jiangsu, der Provinz, in der er 1970 geboren wurde, und studierte parallel Klavier.

1989 ergatterte er an Chinas ältester Musikhochschule in Schanghai erst den einzigen freien Studienplatz für die Sheng. Dann führte ihn 1995 ein DAAD-Stipendium an die Berliner Musikhochschule Hanns Eisler. Dort studiert er bei Rolf Zielke, einem Jazzpianisten, der mit „Global Groove“ gerade ein grundlegendes Lehrbuch für polyrhythmische und polymetrische Strukturen veröffentlicht hat. Schon in China hatte Wu Wei ein Ensemble für Jazz und Weltmusik gegründet, aber erst in Berlin begriff er, was Improvisation ausmacht, eine Kunst, die es in der chinesischen Musik so nicht gibt.

Deutschland verband ihn zugleich stärker mit China

„Was in der Musik für Guqin so spontan klingt“, sagt er, „ist unsere Herangehensweise. Es ist nicht wirklich Improvisation, wie in der Barockmusik kommt es vor allem auf die Artikulation an.“ Auch die klassische Musik kam ihm erst hierzulande nahe. „Das deutsche Leben, die Architektur, die Menschen, die Landschaft: Erst dadurch habe ich eine innere Beziehung zur europäischen Kultur entwickelt. Früher sagte man mir, hier musst du lauter spielen, hier schneller, aber das war Papier.“ Deutschland verband ihn zugleich wieder stärker mit China. „Man sieht vieles aus der Nähe nicht. Wenn ich Barockmusik spiele, verstehe ich meine eigene Musik besser. Die Distanz macht eine Menge aus. Viele Schönheiten sind mir früher einfach entgangen.“

Wu Wei ist Botschafter eines Instruments, das wie viele andere im „Wen Xuan“, einer der ältesten Gedichtsammlungen der Welt, gepriesen wurde. Pan Yue, ein Protagonist der an den kaiserlichen Höfen temperamentvoll vorgetragenen Fu-Dichtung, einer 2000 Jahre alten Vorform der Slam Poetry, preist die Sheng in einer hinreißenden „Rhapsodie auf die Mundorgel“. Darin jagt ein trauriger Musiker den Gästen eines Festgelages abwechselnd Schauer der Rührung und der Freude über den Rücken. Diese Kraft, vom Klagen bis zum Brausen, hat die Sheng noch heute, vorausgesetzt, ihre Obertöne können sich entfalten. „Ich brauche Raum“, sagt er. „In einer trockenen Umgebung hört man sie nicht richtig. Ihre Töne müssen sich wie Wasser vermischen, deshalb spiele ich gerne in Kirchen mit einer Orgel.“

Vom Etikett Weltmusik will er nichts wissen

Was der auf drei Oktaven beschränkten Sheng an Tonumfang und Registern fehlt, macht sie durch eine Vielfalt von Blas- und Saugtechniken wett, die Bezeichnungen wie große und kleine Blumenzunge oder Holzsägen tragen und polyphone Klangflächen bis zum Riesencluster pulsen lassen. So wichtig Wu Wei die Pflege der traditionellen Musik mit ihren weltlichen wie spirituellen Aufgaben ist, betrachtet er es auch als Herzensangelegenheit, das Sheng-Repertoire um Zeitgenössisches zu erweitern.

So ist es sein Ehrgeiz, jedes Jahr mindestens ein neues Sheng-Konzert aufzuführen. In New York und Schanghai spielt er nun Liza Lims „How Forests Think“ für ein zehnköpfiges Ensemble, und im September reist er ins sibirische Krasnojarsk, um dort Enjott Schneiders Orchesterwerk „Yin & Yang“ uraufzuführen. Ondbej Adámek ist dabei, für ihn und die London Sinfonietta zu schreiben, und eine Vielzahl anderer Komponisten bereitet sich darauf vor, den Klangreichtum der Sheng auch anderweitig zu beleuchten.

Nur von einem will Wu Wei nichts wissen, dem Etikett Weltmusik. „Ich möchte nicht an der Oberfläche bleiben. Für mich ist es interessanter, jede Tradition für sich weiterzupflegen und miteinander voneinander zu lernen, als alles zusammenzubasteln.“ Jeder, so hat er, der Zwischenweltler, besser als jeder andere begriffen, bringt seine eigene unverwechselbare Geschichte mit.

Zur Startseite