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Die Journalistin und Autorin Andrea Roedig kam in Düsseldorf zur Welt und lebt in Wien.

© Markus Rössle

„Müttern kann man nicht trauen“ von Andrea Roedig: Zuhause ist, wo der Schmerz wohnt

Andrea Roedig erzählt in „Müttern kann man nicht trauen“ vom Zerfall ihrer Familie. Ein hartes, lesenswertes Buch über Sehnsucht und Selbstbehauptung.

Sonntags hat die Familie ein Ritual: Die Eltern schlafen lang, denn am Abend zuvor haben sie im Wohnzimmer ausgiebig getrunken und geraucht. Nachmittags schicken sie dann ihre beiden Kinder los, um Nachschub zu holen. Immer ist es eine Flasche Korn. Für sich selber dürfen die Geschwister Lakritz und Kaugummi kaufen. Abends schauen alle gemeinsam „Bonanza“ im Fernsehen.

Benommene Langeweile, die jedoch jederzeit in heftige Streits umschlagen kann, liegt über diesen Sonntagen. Sie finden Anfang der siebziger Jahre in einer bürgerlichen Gegend von Düsseldorf statt. Die 1963 geborene Journalistin Andrea Roedig hat sich rund 50 Jahre später für ihr Buch „Müttern kann man nicht trauen“ daran erinnert. Es ist ein auf die Mutter Lilo fokussierter Blick in eine Familienhölle, die zur Zeit der Sauf-Sonntage noch halbwegs im Lot war.

[Andrea RoedigMan kann Müttern nicht trauen. dtv, München 2022. 240 Seiten, 20 €.]

Doch wenig später kommt es zur „Kriese 1974“ wie Roedig ihr zentrales Kapitel genannt hat – nach der Aufschrift auf einem Umschlag, den sie in einer Kiste mit Tagebüchern gefunden hat. Diese Krise beginnt mit dem Bankrott der elterlichen Metzgerei. Es ist eine der drei größten der Stadt, eine Institution, die der Familie Wohlstand und Ansehen gebracht hatte. Aus einer Reihe von Gründen, zu denen auch der Alkohol zählt, ist es damit nun vorbei. Die Angestellten müssen gehen, der Porsche wird verkauft und eine kleinere Wohnung in einem anderen Stadtteil bezogen.

Zunächst finden die Eltern eine Anstellung in der Fleischwarenabteilung eines Supermarktes, doch schließlich kündigen beide und trinken mehr, bei der Mutter kommt Tablettenmissbrauch hinzu. Das Geld wird immer knapper, die Eltern schnorren sich durch und versetzen nach und nach den gesamten Hausstand – auch Dinge, die Andrea und ihrem jüngeren Bruder Christoph gehören.

„Rache“ steht groß auf einem ihrer Tagebuchblätter, weil ihre Mutter – sie nennt sie meist beim Vornamen Lilo – „die geliebte Pfennigspardose gefunden hatte und Christoph mit hundert einzelnen Münzen zum Supermarkt schickte, um Brühwürfel zu kaufen.“ Diese ungemein anschaulichen Berichte zu lesen, fällt oftmals schwer, zumal die Geschwister ihrem Schicksal, dem sie mit einer Kindern oft zueigenen Tapferkeit begegnen, aus der Umgebung erst keine und dann nur die allernötigste Unterstützung erhalten.

Hart muss auch das Schreiben gewesen sein. Die Wut, Enttäuschung und Verletztheit der seit Langem in Wien lebenden Autorin sind präsent in ihrem Buch, ohne dass der Ton larmoyant oder anklagend wird. Denn zuvorderst geht es Roedig darum, die 1938 geborene Mutter zu verstehen und möglichst genau zu porträtieren, wobei sie sich auf Tagebücher, Fotos, eigene Erinnerungen und die ihres Bruders stützt. Sie geht in Lilos Kriegskindheit zurück, skizziert das schwierige Verhältnis zu deren Mutter, das katholische Milieu, schließlich das Aufblühen „zu einer sehr schönen extravaganten Frau“.

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Ein facettenreiches Bild entsteht, mit dem Andrea Roedig sich in die Reihe beeindruckender Mutter-Bücher einschreibt, in der auch Annie Ernaux , Édouard Louis und Vivian Gornick stehen. Wie diese versucht Roedig, das hochemotionale Thema schreibend fassbar zu machen, erträglicher auch. Dass Lilo nach der „Kriese 1974“ für fast drei Jahre spurlos verschwindet, erschüttert ihre Kinder zutiefst – und es hinterlässt Spuren, schließlich Gräben.

Roedig beschreibt wie diametral verschieden sie und ihre Mutter leben: Lilo geht es um Schönheit, ihr um Klugheit. Lilo begibt sich in Abhängigkeit von Männern, sie baut sich ihre Eigenständigkeit auf. Dass sie – wie ihr Bruder – offen homosexuell lebt, sieht Roedig ebenfalls in Zusammenhang mit ihrer Kindheit. Homosexualität sei nicht nur eine Art des Begehrens, sondern „auch eine Form des Widerstandes – in meinem Fall ganz sicher, und die Weigerung, eine Familie zu gründen.“ Eine Ahnenreihe nicht fort-, sondern sie in einem Buch festzuschreiben – auch das ist Selbstermächtigung. Und das gute Recht einer Tochter.

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