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Als München nicht leuchtete. Aufmarsch von Regierungstruppen vor Publikum an der Feldherrnhalle 1919.

© A. & E. Frankl / ullstein bild

München nach dem Ersten Weltkrieg: Wo Hitler zum Politiker wurde

München wurde nach der Novemberrevolution zum Zentralort des deutschen Antisemitismus. Das machte die Stadt zur Bühne Hitlers. Historiker Michael Brenner ergründet die Geschichte.

Die Hitler-Forschung wird nie an ihr Ende kommen. Dabei geht es weniger um die historischen Fakten, die weitgehend bekannt sind, als um die Perspektive, in der sie verknüpft und interpretiert werden. In dieser Hinsicht ist das neue Buch von Michael Brenner, „Der lange Schatten der Revolution. Juden und Antisemiten in Hitlers München 1918–1923“, schon im Ansatz ein Gewinn. Brenners Thema ist die Beteiligung von Juden an der Deutschen Revolution nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, die in München genau ein halbes Jahr dauerte und neben dem eigentlichen Revolutionsgeschehen zwei aufeinanderfolgende Räterepubliken hervorbrachte. Nach deren Ende schlugen die reaktionären Kräfte der Freikorps brutal zurück.

In deren Fahrwasser gelangte der unbekannte Adolf Hitler zu lokaler Prominenz und wuchs zu einem politischen Akteur von nationaler Bedeutung. „Wäre Hitler 1933 nicht zum Reichskanzler ernannt worden“, misst Brenner den Horizont aus, „so wären die Münchner Geschehnisse zwischen 1918 und 1923 wohl eine Randepisode der deutschen Geschichte geblieben. So aber suchen wir (...) nach Erklärungen für das zentrale Ereignis der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Wir suchen nach ihnen (...) eben auch und ganz besonders an jener Schnittstelle der Geschichte, an der Hitler (...) den Kern seines späteren politischen Weltbildes entwickelte.“

Zugleich betrachtet Brenner, Professor für Jüdische Geschichte und Kultur an der Universität München, das Revolutionshalbjahr unter einer weiteren Fragestellung. „Unbestreitbar ist, dass in Deutschland weder vorher noch nachher jemals so viele jüdische Politiker im Rampenlicht der Öffentlichkeit standen wie während des halben Jahres zwischen November 1918 und Mai 1919“, zählt Brenner auf: „Eisner, Landauer und Mühsam entstammten ebenso jüdischen Familien wie zahlreiche weitere Akteure der Revolution und der Räterepublik, darunter Eisners Privatsekretär Felix Fechenbach, sein Finanzminister Edgar Jaffé, sein Mitstreiter und späterer Mitbegründer der Ersten Räterepublik Ernst Toller, der führende Kopf der Zweiten Räterepublik Eugen Leviné und dessen kommunistischer Genosse Towia Axelrod, um nur die wichtigsten Namen zu nennen.“ Nun geht es darum zu fragen, wie sich der außerordentliche Anteil jüdischer Akteure am Revolutionsgeschehen „in den Kontext der jüdischen Geschichte einordnen“ lässt.

„Bereits wenige Wochen nach dem Antritt der Regierung Eisner hatte der Antisemitismus solch bedrohliche Ausmaße angenommen, dass der Münchner Rabbiner Leo Baerwald sich am 7. Dezember 1918 genötigt sah, Erzbischof Faulhaber einen Besuch abzustatten.“ Der spätere Kardinal reagierte nicht, vielmehr: „Während Faulhaber Eisner aus dem Weg ging, so empfing er einige Jahre später doch seinen Mörder, Graf Arco.“ Dass der Ultrarechte Arco selbst jüdische Großeltern hatte und darum von seinen Gesinnungsgenossen gemieden wurde, gehört zu den Bizarrerien der Geschichte.

Die "Judenfrage" taucht regelmäßig in München auf

Brenner widmet sich im Folgenden den Porträts der jüdischen Akteure der Revolution. Während keiner der Revolutionäre religiös im engeren Sinne war, bekannten sich einige durchaus zur jüdischen Gemeinschaft: „Wie Eisner und Landauer, so hatte auch Mühsam sich zwar vom Judentum als Religionsgemeinschaft losgelöst, aber die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft niemals in Frage gestellt.“ Der Dichter Ernst Toller repräsentiert den bei der Rechten verhassten Typus des „Literaten“, der in seinem 1924 in Haft vollendeten Drama „Die Wandlung“ fragt: „Wo habe ich denn eine Heimat, Mutter, die drüben haben eine Heimat, in der sie wurzeln.“ Eugen Leviné schließlich „war der ,jüdische Bolschewist‘, wie die Antisemiten ihn nicht besser hätten erfinden können“. Leviné stand an der Spitze der Zweiten Räterepublik. „Am 2. Mai war das Räteabenteuer vorbei (...) was folgte, war eine Terrorwelle mit über tausend Todesopfern“ – selbstverständlich nicht nur Juden. „Ich weiß ja wohl“, gab Leviné im Juni 1919, vor Gericht gestellt, zu Protokoll, „ich bin meiner Abstammung nach Russe, ich bin Jude, nicht Bayer.“ Leviné wurde hingerichtet – und auf dem Neuen Israelitischen Friedhof beerdigt: „Rabbiner Baerwald, bekannt als eher königstreu und konservativ, hielt eine kurze Ansprache.“

Von Anfang an wurde bei den Akteuren jüdischer Herkunft ebendies ausdrücklich vermerkt. „Das Auftauchen der ,Judenfrage‘ als ein regelmäßiger Topos im öffentlichen Diskurs können wir nach dem Ersten Weltkrieg erstmals in München beobachten.“ Schließlich wären „die antisemitischen Exzesse der Zeit nach dem Krieg (...) undenkbar gewesen, wenn nicht bereits vorher ein fruchtbarer Boden dafür bestanden hätte“.

Bayrischen Juden gerieten durch Revolution in Zwiespalt

Besonders wirkmächtig war der „heute nahezu vergessene, damals so bedeutende“ Presseunternehmer Paul Nikolaus Cossmann. Als Sohn deutsch-jüdischer Eltern geboren, war er in jungen Jahren zum Katholizismus konvertiert. Er war einer der Initiatoren der Dolchstoßlegende und stand so weit rechts, dass ihm sogar der „Untergangs“-Philosoph Oswald Spengler Ende 1923 mangelnde Distanz zur NSDAP vorwarf. Cossmann schrieb seine Tiraden in den von ihm gegründeten „Süddeutschen Monatsheften“, in denen bereits Ende 1918 zu lesen war, „dass die Hauptträger des Nihilismus in Russland wie in Deutschland entwurzelte Juden sind“, wobei gleichzeitig die Ablehnung durch das „solide, anständige Judentum“ beschworen wurde.

Und das nicht von ungefähr. Brenner stellt den Zwiespalt dar, in die die bayerischen Juden durch die Revolution gerieten: „Außer den Antisemiten hatte wohl kaum jemand so starke Aversionen gegen die Beteiligung jüdischer Revolutionäre wie die Münchner Juden.“ Brenner zufolge „distanzierte sich die große Mehrheit der Mitglieder der jüdischen Gemeinde von der Revolution. Sie fühlten sich als direkte Opfer der Ereignisse, da sie ohne ihr Zutun mit der Revolution identifiziert wurden.“ Mit deren Ende verebbte der Antisemitismus nicht etwa, sondern wurde immer stärker Teil der offiziellen Politik, so im Spätherbst 1923 in Form der Ausweisung Hunderter, teils alteingesessener Juden, die nicht über die bayerische Staatsangehörigkeit (!) verfügten, als „wirtschaftliche Schädlinge“.

Bühne und Testfeld für Hitler

In diesem Jahr „kulminierte die antijüdische Stimmung, die sich seit der Revolution aufgebaut hatte“. Ein Ereignis greift ins andere. „Bereits bei der ersten großen Massenveranstaltung der Antisemiten im Münchner Kindlkeller im Januar 1920 war von einer Pogromstimmung gegen die Juden und den ,Marxismus‘ die Rede.“ Die berüchtigte Rede Hitlers vor 2000 Zuhörern am 13. August 1920 unter dem Titel „Warum sind wir Antisemiten?“ – für den Historiker Thomas Weber in seinem Buch von 2016, „Wie Adolf Hitler zum Nazi wurde“, ein Wendepunkt in Hitlers Karriere – wird von Brenner lediglich gestreift. „Die Sozialdemokraten“, betont Brenner, „erwiesen sich als weitgehend resistent gegen die sich verbreitende antisemitische Welle“, auch wenn es einzelne judenfeindliche Äußerungen bis hinauf in die Parteispitze gegeben hat. „Selbst in Kreisen der KPD machte sich ,eine antisemitische Stimmung gut bemerkbar‘, hieß es in Spitzelberichten.“ Brenners Fazit: „Die Stadt München mit ihrer nach der Niederschlagung der Räterepublik zunehmend antisozialistischen und antijüdischen Atmosphäre diente Adolf Hitler als Bühne (...) und erwies sich als ideales Testfeld für seine späteren Pläne.“

Hitler kam eben nicht aus dem Nichts. „Bevor München die Hauptstadt der nationalsozialistischen Bewegung wurde, war sie bereits die Hauptstadt des Antisemitismus in Deutschland geworden.“ Die Revolution spielt dabei naturgemäß eine Rolle, aber eben nicht die der alleinigen Ursache. „Wäre die nachfolgende Geschichte anders verlaufen, so hätte man dieses Kapitel auch als Erfolgsgeschichte für die deutschen Juden werten können, auf die sie hätten stolz sein können, statt sich ihrer schämen zu müssen“, urteilt Brenner: „Wir würden dann die Geschichte einer erfolgreichen deutsch-jüdischen Emanzipation schreiben, in der die Religion und Herkunft der führenden Politiker ihrem politischen Aufstieg nicht im Weg gestanden hätten.“ Es ist die Leistung dieses Buches, sowohl die Münchner Revolution von Fehlurteilen zu befreien als auch das Milieu präzise zu fassen, in dem die Negativfigur der deutschen Geschichte ihren Aufstieg begann.

Michael Brenner: Der lange Schatten der Revolution. Juden und Antisemiten in Hitlers München 1918–1923. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 400 S., Abb., 28 €.

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