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Mike Leigh im Mai 2014 in Cannes.

© Reuters

"Mr.Turner": Interview mit Mike Leigh: „Ich erzähle immer instinktiv“

Mike Leigh hat ein grandioses Anti-Biopic gedreht, über den Maler William Turner. Ein Gespräch mit dem britischen Regisseur über Genres, Bohemiens, seine Söhne – und den kaum lösbaren Konflikt zwischen Kunst und Leben.

Mr. Leigh, lassen Sie mich mit ein paar Warum-Fragen beginnen. Erst die unvermeidliche: Warum Turner?

Seit langem bin ich fasziniert von seiner Gemälden. Als ich anfing zu forschen über William Turner als Menschen, war ich begeistert von dieser exzentrischen, komplexen, leidenschaftlichen, manchmal tief ehrlichen, manchmal extrem unehrlichen Persönlichkeit. Großartig, die Spannung zwischen einem niedrigen, ja, auch schmutzigen Wesen und diesem so poetischen, sublimen, sprituellen Werk.

Und warum „Mister“ Turner?
Sicher hätte man den Zusatz weglassen können, zumal jetzt schon viele Leute auch nur „Turner“ sagen, wenn sie den Film meinen. „Mister“ deutet darauf hin, dass es hier zwar um ein Genie geht, vor allem aber um eine reale Person, einen ganz normalen Typen.

Andererseits scheint der Film selber nie „Warum?“ zu fragen. Er fragt nicht, warum Turner seine Kinder verleugnet. Oder warum er vor einer Prostituierten in Tränen ausbricht.
Ich erzähle Geschichten immer instinktiv, emotional ... Wenn Sie auf der Straße sehen, wie ein Kind von einem Auto überfahren wird, dann erleben Sie das alles auf einmal. Sie wissen vielleicht nicht, wer das Kind ist oder der Autofahrer, aber Sie wissen alles. Auch Turner erklärt in seinen Bildern nichts, und wir machen doch mühelos selber damit unsere Erfahrung.

Ein informiertes Publikum kann dabei nicht schaden.
Ich vermute, mein Publikum ist mindestens so intelligent wie ich und bringt eine vernünftige Menge Lebenserfahrung mit. Alle meine Filme handeln von Menschen. Und Orten. Und Zeiten. Von allem, was die menschliche Erfahrung zu dem macht, was sie ist. Ich will das in dreidimensionaler Weise widerspiegeln. So dass Sie das Gefühl haben, das Leben selbst auf der Leinwand wiederzufinden, in allen seinen Widersprüchen und seiner Komplexität.

Letzte Warum-Frage, nur ein Detail. Warum hat Turner immer einen Regenschirm dabei, obwohl es nie regnet?
Weil er tatsächlich immer einen dabeihatte! Das ist kein Symbolismus, sondern ein überliefertes Faktum. Im Schirmstock steckte ein Stichmesser, das brauchten Reisende im 19. Jahrhundert zur Selbstverteidigung. Wir wollten diese Waffe irgendwie in die Handlung integrieren, aber die Gelegenheit ergab sich nicht. Ein Schwachpunkt, leider.

Und die sonstigen biografischen Details, Turners Haushälterin Hannah, der reiche Fabrikant Gillott, Turners Liebe für die Musik von Henry Purcell?

Alles überliefert. Nun gut, es gab neben dem Unternehmer Gillott einen weiteren Millionär, der alle Bilder von Turner aufkaufen wollte, ich habe die zwei zu einer Figur verdichtet. Hannah war die Nichte der Mutter seiner Töchter, sie lebte 40 Jahre in seinem Haushalt. Nur das sexuelle Verhältnis zu ihr ist erfunden, aber das kam bei der Entwicklung der Szene organisch hinzu, angesichts von Turners allgemeinen sexuellem Appetit.

Angesichts des vorgegebenen Stoffs: Mussten Sie von Ihrer vertrauten Strategie – wochenlange gemeinsame Erarbeitung der Geschichte mit den Schauspielern, kein formales Drehbuch – abweichen und konventioneller erzählen?
Das Material selbst für meine Filme ist immer vollständig frei. Sie können eine Million Jahre lang forschen, tausend Bücher lesen, aber davon allein geschieht vor der Kamera gar nichts. Zum Beispiel die Szene in der Royal Academy of Arts und die Auseinandersetzung mit Turners Malerkollegen John Constable: Sie ist biografisch komplett dokumentiert. Aber man muss es hinkriegen, dass sie geschieht, auf der Leinwand. In der Szene treten durchweg Schauspieler auf, die auch malen können, wir verbrachten Monate miteinander und diskutierten gemeinsam. Ich folge da nicht einfach meiner eigenen Nase, sondern erzähle von Turner, mit einer gewissen künstlerischen Lizenz. Das ist das Projekt, so geht das Spiel.

Stichwort Genre: Mir scheint, Sie nutzen Genres nur, um sie völlig neu zu erfinden, das Feelgoodmovie mit „Happy-Go-Lucky“ oder den Silver-Ager-Film mit „Another Year“. Ist Mr. Turner das Anti-Biopic eines Genre-Hassers?
(lacht) Ich bin nicht gegen Genres, nur gegen den Fetisch Genre. Meinen Studenten sage ich, denkt nie in Genres. Sondern an das, worum es in eurem Film geht. Genres muss man den eigenen Zielen anpassen, man darf sie nicht bloß nachbilden.

Haben Sie vorweg Biopics geguckt, etwa „Frida Kahlo“, „Pollock“ oder „Basquiat“?
Tonnenweise.

Und, alles Mist?
Nein, manche sind sehr gut, etwa Alexander Kordas „Rembrandt“ von 1936, mit Charles Laughton, dabei ist der Film in Schwarz-Weiß! „Caravaggio“ dagegen von Derek Jarman, den ich sonst sehr schätze: todlangweilig, weil er seine Figuren nicht erforscht. Da hängen nur Leute rum, die sich toll finden, und es geht um gar nichts.

Nun haben Sie als Filmkünstler einen Künstlerfilm gedreht. Eine Art Selfie?
Es geht nicht um ein Selbstporträt, sondern um Turner. Im Lauf der Jahre lernt man solche Künstlertypen kennen, Outsider, Exzentriker, Bohemiens. Was mich betrifft: Zweimal im Film erkundigt sich jemand bei Turner nach seinen Kindern, und er verleugnet sie ...

... Sie selber haben zwei Söhne ...
... oh, sprechen Sie mich nicht auf meine Jungs an, dann höre ich gar nicht mehr auf!

Anders gefragt: Muss man, um Künstler zu sein, eigene Schuld blockieren können?
Warum Schuld?

Wir sprachen davon, dass Turner seine Kinder verleugnet.
Es geht eher darum, vieles zu blockieren. Das große Jonglierstück ist doch, verantwortlich ein ordentliches Leben aufrechtzuerhalten, trotz der unbarmherzigen Tunnelvision, die die Arbeit erzwingt. Turner, der so ungemein schöpferisch war, arbeitete extrem viel. Da ging manches über Bord.

Heißen Sie das gut? Beziehungsweise ist das unvermeidlich?
Bis zu einem gewissen Grad schon. Eine längere Strecke meines Lebens habe ich meine Söhne allein aufgezogen und in der Zeit auch Filme gedreht. Und das bedeutet bei mir grundsätzlich sechs Monate Proben. Manche Kollegen machen vor Drehbeginn erst mal vier Wochen Ferien in Südfrankreich, ich dagegen gehe nach der ganzen Vorbereitung immer völlig fertig an den Start. Das ist schwierig, aber so verstehe ich meinen Job.

Wenn Sie für einen Augenblick in eine Zeitmaschine einsteigen könnten und irgendwo kurz stoppen ...

... dann würde ich in Turners Welt reisen. und checken, ob wir irgendwas im Film richtig getroffen haben. Zum Beispiel die erwähnte Szene in der Royal Academy: Die Dramatisierung des Ereignisses haben wir ja durchaus akkurat hingekriegt. Aber ich bin absolut sicher, alles hat damals total anders ausgesehen.

Und in die Zukunft?

Lieber nicht! Auch wenn ich da durchaus mehr drüber spekuliere als über die Vergangenheit. Die Welt, die wir unseren Kindern und Enkeln überlassen, wird ein extrem rauer Ort sein.   

Zum Schluss etwas ganz Pädagogisches: Was können wir von Mr. Leigh lernen?
Eines ist sicher: Nie sage ich dem Publikum, was es denken soll. Mein großer Landsmann Ken Loach lässt keinen Zweifel daran, worauf er in seinen Filmen hinaus will. Ich hoffe, dass meine Filme nicht so geradlinig sind. Die Zuschauer sollen mit Fragen aus dem Kino kommen, mit Dingen, über die man spekulieren kann.

Eine der Fragen wäre vielleicht diese: Warum kann das Leben nie so schön sein wie seine Wieder-Erfindung in Kunst?
Das stimmt nicht. Das Leben ist genauso schön. Wenn Sie Glück haben.

Das Gespräch führte Jan Schulz-Ojala.

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