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Moses (John Tomlinson, im Unterhemd) steht für moralischen Fundamentalismus, sein Bruder Aron (Lance Ryan, r.) für gefährlichen Pragmatismus.

© Semperoper / Ludwig Olah

„Moses und Aron“ an der Semperoper: Wenn der Algorithmus herrscht

Hier ist sogar das Goldene Kalb virtuell: Calixto Bieito inszeniert an der Semperoper Dresden „Moses und Aron“ von Arnold Schönberg.

Nach drei Jahren Vorbereitungszeit hätte es sich Peter Theiler als neuer Intendant der Dresdner Staatsoper im Semperbau bequem machen können: Irgendein wohlfeiles „Konzept“ hätte sich schon finden lassen, das künstlerischen Anspruch und volle Säle gleichermaßen garantiert hätte. Doch der Schweizer Theatermann ging mit Schönbergs immerhin auch schon 90 Jahre altem Zwölftonopernfragment „Moses und Aron“ als Erstproduktion in seiner Verantwortung ein hohes Risiko in der traditionsversessenen Stadt ein – in der im Vorfeld nicht umsonst aufwendig mit dem Wagnis Harry Kupfers geworben wurde, das Stück 1975 gegen die DDR-Kulturnomenklatura durchgesetzt und den sagenhaften Erfolg von fast 40 Aufführungen erwirkt zu haben.

In dieser neuen Spielzeit sind derer bisher lediglich fünf geplant – ein Frevel angesichts des Aufwands, den die Einstudierung des lange Zeit als unspielbar geltenden Stücks erfordert. Bedauerlich aber auch insofern, als sich die Mühe rundweg gelohnt hat: Unter dem Dirigat Alan Gilberts verschweigt insbesondere die Sächsische Staatskapelle Dresden die noch von der überwundenen Spätromantik geschulte Ausdruckskraft der lange als „abstrakt und kalt“ missverstandenen Musik nicht, bringt mit Präzision und Empathie die Partitur zum expressiven Glühen, ohne dass die theoretische Grundlage des dodekafonischen Konstrukts in den leisesten Verdacht eines vordergründigen Selbstzwecks träte.

Damit korrespondiert die wohltuend ernsthafte Inanspruchnahme der Musik für die Inhalte des Stücks auf wundersame Weise mit der Idee des Regisseurs Calixto Bieito, den Konflikt zwischen den Brüdern Moses und Aron in den Mittelpunkt zu stellen: intellektueller Fundamentalist der eine, pragmatischer Ideenretter der andere, der das Volk auf dem Weg aus der ägyptischen Knechtschaft in das gelobte Land da abholen will, wo es steht.

Vor dem letztlich ideologischen Konflikt des Brüderpaars, der auch die wesentliche Frage nach dem richtigen Verhältnis zwischen blind-gehorsamem Glauben und aufgeklärtem Denken behandelt, ist die eigentliche Hauptfigur des Geschehens aber ohnehin der von Jörn Hinnerk Andresen musikalisch ausgezeichnet präparierte und von gleich drei weiteren Ensembles unterstützte Opernchor. Calixto Bieito investierte in die Führung der alles andere als homogenen Masse viel Arbeit und kann so dialektisch darstellen, wie ein durchaus individualisiertes „Volk“ zur lenk- und verführbaren Horde wird. Am Ende geht es gar nicht darum, ob der allgewaltige Gott unsichtbar oder bildhaft sei, sondern um die Frage, wie viel religiöse oder moralische Verfasstheit für eine Gesellschaft noch gesund und ab wann Uniformität zur Gefahr wird.

Hochpolitisch, ohne Dogmen

Während John Tomlinson als Moses etwas ältlich an seiner eigenen Schwäche scheitert, verbindliche Regeln verständlich zu machen, verstrickt Lance Ryan seinen Aron mit großartiger Ausdruckskraft, aber nicht immer lupenreiner Stimmgewalt in die Widersprüche eines smarten Erklärers vom Typ Regierungssprecher, der seine zweifelnde Gefolgschaft um des Prinzips willen bei Laune halten muss. Mit dem Kunstgriff, die Wüste als weißen Bretterrahmen (Rebecca Ringst) zur Projektionsfläche einer fiktionalen Welt zu machen, in der Computeralgorithmen bestimmen, was als echt wahrgenommen wird, verzichtet Bieito darauf, die Blut- und Gewaltfantasien, die er früher inflationär auf die Bühne brachte, real abzubilden.

Hinter ihren dreidimensionalen Brillen sehen die Geblendeten des Volks nicht mehr ihre realen Nachbarn, sondern nur das, was Aron ihnen vorgaukelt. Folgerichtig gibt es auch kein Goldenes Kalb, um das man orgiastisch tanzen müsste, sondern nahezu ausschließlich virtuelle Reize, an denen sich die Gelüste individuell abreagieren lassen. Zwei gläserne Menschen, in Plastikfolie verpackt, deuten die Möglichkeit an, sich im digitalen Zeitalter den Menschen und seine Seele nach eigenen Wünschen zu konstruieren – ein Horrorszenario ohne Horror und damit viel beängstigender, als es hektoliterweise Theaterblut und Sperma je vermöchten.

Damit erlebt Dresden gerade in diesen Zeiten eine hochpolitische Inszenierung, und zwar ganz ohne Dogmen. Denn gerade dadurch, dass sich Bieito einer nicht zu treffenden Entscheidung zwischen moralischem Fundamentalismus und gefährlichem Pragmatismus verweigert, sondern die Ambivalenz seiner Figuren durchaus mit einem großen Fragezeichen im Raum stehen lässt, erhöht er den Wert seiner Inszenierung beträchtlich. Anders als früher gewohnt traut er dem Publikum das eigene Denken zu und drängt ihm keine Deutung auf. Damit macht er sich letztlich zum Gefolgsmann Schönbergs, der sein Stück nicht nur aus gesundheitlichen Gründen unvollendet ließ, sondern wohl weil er selbst am ewigen Widerspruch zwischen seinen zwei biblischen Brüdern scheiterte. Der Konflikt kann nur ungelöst bleiben.

wieder am 10. und 15. Oktober.

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