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Beobachterin mit Scharfsinn. Monique Lévi-Strauss.

© John Foley

Monique Lévi-Strauss: Die Zeit der Zeugin

Monique Lévi-Strauss, die Partnerin des berühmten Anthropologen, erzählt in „Im Rachen des Wolfes“ ihre Kindheitserinnerungen. Die Kolumne Flugschriften.

Von Caroline Fetscher

Caroline Fetscher schreibt an dieser Stelle regelmäßig über Sachbücher. Nächste Woche:  Peter von Becker über literarische Fundstücke.

Abenteuerlich war die Kindheit von Monique Lévi-Strauss. Eine ihrer frühen Erinnerungen ist der Blick durch das Fernrohr auf der Dachterrasse ihrer Großeltern in Paris. Von dort sah das kleine Mädchen über die Dächer der Stadt auf die Pferderennbahn von Longchamp oder die Leuchtschrift am Eiffelturm. Das Elternhaus der 1926 geborenen Anthropologin, die 1954 Claude Lévi-Strauss (1908–2009), heiratete, war kosmopolitisch. Ihr Vater war ein Ingenieur aus Belgien, seine jüdisch-amerikanische Frau hatte er während des Studiums in Harvard kennengelernt, Tochter und Sohn waren katholisch getauft.

Erst 2014 verfasste Monique Lévi-Strauss ihre Kindheitserinnerungen, über die sie lange geschwiegen hatte. Dass sie nun auf Deutsch erscheinen, verdankt sich der Empfehlung des in Berlin lebenden Historikers Etienne François, der ein begeistertes Nachwort beisteuert. („Im Rachen des Wolfes“. Aus dem Französischen von Annette Jucknat. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Theiss, Darmstadt 2021, 128 S., 20 €.) Das Abenteuerlichste an dieser Kindheit ist eine verrückt wirkende Wendung. Seine Kinder, fand Moniques Vater, Jules Roman, sollten Fremdsprachen lernen, akzentfrei – und dort, wo die Sprachen wohnten. Also auch Deutsch in Deutschland.

Belgiern würde schon nichts passieren, befand er, als er die zwölfjährige Tochter zum Entsetzen der Familie 1938 ins Haus eines befreundeten Ingenieurs im Ruhrgebiet schickte. Doch ärger noch: 1939 nahm Jules Roman einen Vertrag bei der Gutehoffnungshütte in Oberhausen an und quartierte bald die ganze Familie in Düsseldorf ein. Erst nachdem er, wie viele ausländische Zivilisten, mehrere Monate in NS-Internierung verbracht hatte, verlor sich seine Naivität.

Danach saß die Familie ohne Pässe fest, erlebte Bombennächte, Brände, Not, Mangel und den Wahn der Ideologie. Im Fach „Rassenlehre“ maß der Biologielehrer Moniques Schädel aus, zufrieden von den Merkmalen der „dinarischen Rasse“, der sie als Belgierin angehören sollte. Diese Jahre „wiegen schwerer als der Rest meines Lebens“. Lakonisch und unsentimental scheint das Erzählen zu versöhnen mit dem Zorn auf den Vater, der Angst um die Mutter, dem Horror des Erlebten.

Sie übersetzte für die Besatzer

Denn die Schülerin begegnete auch freundlichen Individuen, etwa den Direktor, der es verstand oder verzieh, dass die Abiturientin den Hitlergruß verweigerte. Wie durch ein Wunder überlebten sie alle. Monique begann ein Medizinstudium und arbeitete im Lazarett. Sie übersetzte für die alliierten Besatzer – wie später in Paris für Jaques Lacan. Der ließ sich von ihr einmal ein ganzes Buch von Melanie Klein übertragen – er hatte nur Latein und Griechisch gelernt.

Ein Teil von Monique Romans Familie gehörte zum Wiener Umfeld von Freud, auch Moniques Mutter machte eine Psychoanalyse. Wie miserabel die Ehe der Eltern vor deren Scheidung war, fasst die Autorin in eine Miniatur: War der Vater auf Reisen, schrieb die Mutter ihm Liebesbriefe. Kam er zurück, fand sie die Briefe ungeöffnet in seinem Gepäck. Glücklicher war Moniques Ehe mit Claude, den sie durch Lacan kennenlernte. Für ihn übersetzte sie aus dem Deutschen. „Zwei Jahre später beschlossen wir, zusammenzuleben. Und hier endet das, was ich erzählen wollte.“ So endet dieses absolut außergewöhnliche Buch.

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