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Näher mein Trabant zu dir. Abendstimmung am Mount Everest.

© Mauritius

"Mondenkind" und "Lonely Shadows": Eine kleine Mondmusik

Einsam, einsamer, Jazzklavier: Michael Wollny und Dominik Wania veröffentlichen neue Soloalben.

Von Gregor Dotzauer

Etwa zur selben Zeit, als im Himalaya Alleinbezwingungen der Achttausender zur neuen Königsdisziplin von Extrembergsteigern wurden, entdeckten Jazzpianisten das Soloalbum. Wer sich Anfang der 1970er Jahre beweisen wollte, stürzte sich in die Einsamkeit der 88 Tasten – und das oft ohne die Sicherheit von Kompositionen. Noch Art Tatum und Thelonious Monk, Jaki Byard und Lennie Tristano, die schon allein auf weiter Flur bewährt hatten, verließen sich auf harmonisch vorgespurte Wege. Davon entfernte sich die nachfolgende Generation immer weiter.

Innerhalb kürzester Zeit begründeten Chick Coreas „Solo Improvisations“, Keith Jarretts „Facing You“ und Paul Bleys „Open, to Love“ auf dem jungen Münchner Label ECM eine neue konzertante Klaviermusik, die zwischen virtuos aufschäumender Spätromantik und spröder Melancholie viele spontane Formen annahm.

An anderer Stelle verknüpfte Muhal Richard Abrams afroamerikanische Traditionen mit europäischer Avantgarde, und Cecil Taylor betrieb Hochleistungssport in Free-Jazz-Höhen knapp unterhalb der Todeszone. Mit leichter Verzögerung folgten auch Frauen – allen voran Irène Schweizer, deren Kraft und Beweglichkeit manchen Mann das Fürchten lehrte.

Tiefgefrorene Leichen am Wegesrand

Dabei stand das Athletische nie im Mittelpunkt. Die Introspektion überwog. Auch Reinhold Messner ist mindestens so sehr Philosoph wie Sportler. Den kraftmeiernden Leichtsinn der Vielen konnte er nicht verhindern. In den Basislagern, die zum musikalischen Nanga Parbat oder dem Annapurna führen, herrscht seit Jahren massentouristisches Gedränge. Einige sind unverrichteter Dinge wieder abgezogen, andere haben sich mit zweifelhaftem Erfolg auf den Weg zum Gipfel gemacht. Er wird gesäumt von unverkäuflichen CDs, die sich auftürmen wie die leeren Sauerstoffflaschen am Mount Everest, und wer nicht aufpasst, stolpert über eine tiefgefrorene Leiche.

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Noch höher hinaus will jetzt nur Michael Wollny. „Mondenkind“ (ACT Records, ab 25. September) heißt 13 Jahre nach seinem solistischen Debüt „Hexentanz“ das Album, dessen Laufzeit exakt der Spanne von jeweils 46 Minuten und 38 Sekunden entspricht, die der Astronaut Michael Collins im Juli 1969 brauchte, um den Mond an Bord der Columbia ohne Kontakt zur Erde zu umrunden, während seine Kollegen Neil Armstrong und Buzz Aldrin den Trabanten erkundeten. Der Zufall will es, dass parallel „Lonely Shadows“ (ECM Records), das Debüt des Polen Dominik Wania, erscheint. Vor allem im Quartett des Altsaxofonisten Maciej Obara erspielte er sich einen Namen als Pianist, der das Perlende und Kultivierte seines vollendet klassischen Anschlags im Nu stürmisch aufheizen kann.

Die beiden verbindet vieles. Wania, 1981 in Sanok an der Grenze zur Ukraine und der Slowakei geboren, hat nach einem Studium am Bostoner Berklee College, wo ihn insbesondere Danilo Perez und Jerry Bergonzi prägten, eine Professur in Krakau. Wollny, 1978 im unterfränkischen Schweinfurt geboren, hat eine Professur in Leipzig.

Harmonisches Denken in Farben

Beide sprechen fließend die Sprache der Jazztradition und deren aktueller Varianten, beziehen aber Wesentliches aus dem französischen Impressionismus und dessen Verlängerung in den seriellen Techniken von Olivier Messiaen. Beide bewundern Erik Satie und Alexander Skrjabin, und für beide ist harmonisches Denken in hohem Maß ein Denken in Farben.

Was bei Wania im Zeichen seines Hausgottes Maurice Ravel stärker schillert, zeigt sich beim Schwarzromantiker Wollny in fahleren Valeurs. Und doch präsentieren das während des Lockdowns im April aufgenommene „Mondenkind“ und die letzten November entstandenen „Lonely Shadows“ unterschiedliche Ausprägungen ihrer Einsamkeitskunst.

Die offensichtlichste Differenz liegt darin, dass Michael Wollny von vornherein mit mehr Struktur arbeitet. In bewährter Manier mischt er offenbar spontan Entstandenes wie das Trillertrümmerfeld der „Lunar Landscapes“ oder das abstrakt hingetuschte „Enter Three Witches“ mit Eigenkompositionen, etwa dem Titelstück, das mit einem gleichmäßig klirrenden Sekundmotiv im Diskant die eisige Stimmung vorgibt, während sich in den Tiefen majestätischere Schichten bilden.

Dazu kommen Bearbeitungen von Popsongs wie Tori Amos’ „Father Lucifer“ oder Sufjan Stevens’ „Mercury“. Sie fügen sich so bruchlos ins Ganze wie die eigenwillige Aneignung eines Lieds von Alban Berg oder der zweite, satiehaft klingende Satz einer Klaviersonatine von Rudolf Hindemith, dem wegen seiner nationalsozialistischen Vergangenheit verrufenen Bruder von Paul Hindemith.

Ganz aus dem Moment geboren

Dominik Wania dagegen gibt sich ganz dem Moment hin. Selbst von elementaren Improvisationskonzepten wollte er nichts wissen. In den Weiten seiner mentalen tabula rasa wiegen sich nun Tonfelder, aus denen sich kaum jemals eine einprägsame Melodie erhebt, die aber von atemberaubenden harmonischen Überlagerungen leben: benachbarte Tonarten, die sich ineinander schieben, schwelgerisch orchestrierte Ganztonleitern.

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Jedes der elf erst im Nachhinein assoziativ benannten Stücke hat eine andere Temperatur. Zwischen dem ungebrochenen Wohlklang des Titelstücks und den wilden Zacken von „Relativity“ herrscht durchaus eine Abwechslung. Dennoch kann man nur eingeschränkt von prägnanten Charakterstücken sprechen: In der weitläufigen Leere des Luganer Auditorio Stelio Molo, wo Manfred Eicher für sein Label ECM regelmäßig aufnimmt, nivellieren sich die jeweiligen Eigenschaften: Auch das Schroffe rückt aus der Entfernung in ein allzu gütiges Licht.

Michael Wollnys Ausbrüche, wie sie etwa auf „Spacecake“ zu hören sind, rücken einem sehr viel näher, und wenn er im Inneren seines Flügels Klangmeteoriten einschlagen lässt, kommen sie auch beim Hörer als Erschütterung an. Das ist keine bloße Frage des Temperaments: Tatsächlich dürften sich Wollny und Wania in dieser Beziehung wenig nehmen. Es ist eine Frage der Produktion, für deren Klangästhetik im ersten Fall der Künstler selbst, im zweiten Fall Manfred Eicher verantwortlich war.

Algorithmen für das Disklavier

Von Wanias Bandbreite zeigt er nur einen Ausschnitt. In diesem Zusammenhang ist es irritierend, dass ihm Wania zwar für sein grenzenloses Vertrauen dankt, aber nur davon spricht, dass „die Musik auf diesem Album eine Ästhetik reflektiert, die mir nahe ist“. Craig Taborn, der mit ähnlichem Raumklang, aber basalen Improvisationskonzepten 2010 für ECM das epochale Soloalbum „Avenging Angel“ einspielte, konnte durch seinen noch viel abstrakteren Zugriff wohl entsprechende Widerstandskräfte entwickeln.

In der langen Reihe der Pianosolos von ECM, die auch weniger prominente Namen wie François Couturier und Stefano Bollani umfasst, ist dieses Album von Dominik Wania dennoch ein wertvoller Zuwachs. Und Michael Wollny, das unangefochtene Zugpferd von ACT, schafft es vielleicht, dass in seinem Gefolge auch Aufnahmen mit Interpreten wie dem Nürnberger Rainer Böhm und der Dresdnerin Johanna Summer die verdiente Aufmerksamkeit bekommen.

Derweil spielt die Musik schon wieder ganz woanders – nämlich unter anderem da, wo die Künstliche Intelligenz zu Hause ist. Der amerikanisch-französische Pianist Dan Tepfer hat im vergangenen Jahr mit „Natural Machines“ (Sunnyside Records) ein Yamaha Disklavier dafür programmiert, ihm live auf der Grundlage verschiedener Algorithmen einen Widerpart zu bieten. Mitten in dieser Welt betritt man hier gleich ein anderes Universum.

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