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Barbara Honigmann, 2019.

© Violetta Kuhn/dpa

„Möwe“ in Ost-Berlin: Brecht und Beauvoir gingen in diesem Club ein Bier trinken

Barbara Honigmann begibt sich in „Unverschämt jüdisch“ auf die Spuren des verschwundenen Künstlerclubs der DDR und wirft ein Schlaglicht auf jüdisches Leben im Sozialismus.

Irgendwann in den Nachwendejahren hat sich Barbara Honigmann in der Berliner Luisenstraße auf die Suche nach der „Möwe“ gemacht. Gefunden hat sie den Künstlerclub nicht mehr, nicht einmal das Gebäude, in dem einst neben zahlreichen deutschen Kulturschaffenden von Bertolt Brecht bis Johannes R. Becher auch internationale Besucher wie Simone de Beauvoir und Sophia Loren bei Bier, Borschtsch und Wodka dem jungen sozialistischen Staat ein wenig internationales Flair verliehen.

Früher, als Ost-Berlinerin, war Honigmann die Gegend direkt an der Mauer bestens vertraut, nun schienen sogar die Straßen in andere Richtungen zu verlaufen als damals. In ihrer Erinnerung aber besteht die „Möwe“ weiter, zumindest im „Klang der Erzählungen“, die sie als Kind und Jugendliche so oft gehört hat. Denn auch Honigmanns Eltern waren Gäste des Clubs. Bis heute fragt sich die 1949 geborene Autorin, welche Hoffnungen ihre jüdischen Eltern hatten, als sie kurz nach dem Holocaust in das zerstörte Berlin kamen und ein Kind in die Welt setzten.

[Barbara Honigmann: Unverschämt jüdisch. Hanser Verlag, München 2021. 160 Seiten, 20 €.]

Ausgelöst wurde Honigmanns Suche in der Luisenstraße durch einen Tagebucheintrag von Max Frisch, wie er in Berlin kurz nach dem Krieg drei Tassen aus Meißner Porzellan gekauft hatte. Auch ihre Eltern besaßen solche Tassen. Sie stehen heute bei ihr im Schrank, zu Hause in Straßburg, wohin sie zog, nachdem sie 1984 die DDR verlassen hatte. Als sie 2011 in Zürich den nach Frisch benannten Literaturpreis erhielt, baute sie ihre Erinnerungen an die „Möwe“ in ihre Dankesrede ein. Zusammen mit anderen Reden und Aufsätzen hat Honigmann diese nun in einem Band veröffentlicht, den sie „Unverschämt jüdisch“ genannt hat.

Damit greift sie eine Formulierung aus der deutschen Ausgabe von Jean-Paul Sartres „Betrachtungen zur Judenfrage“ auf, wo der Ausdruck „juif inauthentique“ mit „der verschämte Jude“ übersetzt wurde. Dem setzt sie ihre Stimme als „Frau, Jüdin, Deutsche und dazu noch aus dem Osten“ entgegen. Weil Honigmann dies mit größter sprachlicher Eleganz macht und die Form der Preisrede ihr zudem Sprunghaftigkeit und Subjektivität erlauben, ist die Sammlung lehrreich, mitunter humorvoll und dennoch streitbar geworden.

Mit Rollkragenpulli und Zigarette zum Existentialismus

So berichtete sie bei der Verleihung des Elisabeth-Langgässer-Preises von ihrem Unbehagen angesichts von Langgässers mystischem Katholizismus und, mehr noch, deren Schweigen im „Dritten Reich“. Beides ist für sie unverständlich, weil Langgässers Vater jüdischer Herkunft war. Für Ricarda Huch empfindet die Autorin dagegen Sympathie, auch weil sie deren schwierige Situation zwischen Konsens und Konflikt während des Nationalsozialismus an ihre eigene Zeit als junge Künstlerin in der DDR erinnert.

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Wie viele ehemalige Emigranten hatten sich die Eltern von Honigmann in der „Möwe“ eine Parallelwelt errichtet, in der sie auf Distanz zur Mehrheitsbevölkerung blieben. Das Gefühl von Fremdheit und tiefer Verletzung habe sich bei ihren Eltern lange gehalten und sei vermutlich an sie weitergegeben worden. Als Jugendliche musste sie zunächst lernen, die Entscheidung der Eltern für eine Rückkehr nach Deutschland zu akzeptieren. Mit schwarzem Rollkragenpullover und Zigarette im Mundwinkel entdeckte sie den Existenzialismus für sich. Die „Probleme von damals, mit dem Deutschen und dem Jüdischen und dem unabhängigen Denken“ sind aber bis heute so existenziell für sie, dass sie sich als Mutter gleichermaßen ihrer Kinder und Texte fühlt, die sie ungern sich selbst und der weiten Welt überlässt.

Manchmal gefalle sie sich in der Rolle als eine der letzten deutschen Juden, sagte Honigmann in ihrer Rede zum Jakob-Wassermann-Preis 2018. Einfach war diese Rolle nie. So seien deutsche Juden nach 1945 „nicht nur verschämte Juden, sondern auch verschämte Deutsche“ gewesen. Deshalb habe der Großvater ihres Mannes, der Philosoph und Altphilologe Rudolf Schottlaender, seine Autobiografie „Trotz allem ein Deutscher“ betitelt, obwohl er sich während der Nazi-Zeit verstecken musste. Immerhin hat er den Holocaust nicht nur durch Glück überlebt, sondern weil er mit einer deutschen Nichtjüdin verheiratet war.

1995 musste die „Möwe“ schließen

Dass Schottlaender den Weg seines Enkels und dessen Frau hin zu einer modernen jüdischen Orthodoxie nicht guthieß, erstaunt nicht angesichts seines eigenen Wegs aus der Religion und seiner vom Rationalismus geprägten Philosophie. In anderer Hinsicht scheint eine Annäherung denkbar: 1926 hatte Schottlaender als Erster Marcel Prousts „Recherche“ auf Deutsch übersetzt. Indem Honigmann immer wieder mit Nachdruck auf Prousts jüdische Identität hinweist sowie Parallelen und Unterschiede zwischen diesem und Kafka aufzeigt, erweitert sie den Blick dessen, was als „deutsch-jüdische Literatur“ meist noch immer fest an sprachliche Grenzen gebunden ist. In dieser Hinsicht erweist sich Honigmann als europäische Literatin im besten Sinne.

Die „Möwe“ musste 1995 schließen. Nach kostenintensivem Umbau haben sich Erscheinungsbild und Funktion des Gebäudes in der Luisenstraße gewandelt: Die Landesvertretung von Sachsen-Anhalt hat heute dort ihren Sitz. Nur wenige Meter weiter auf dem Karlplatz steht aber eine Gedenktafel mit einem Gedicht von Bertolt Brecht, das an die Nachkriegszeit erinnert. Wie fast allen angehenden Künstlern in der jungen DDR habe Brecht trotz seiner „ideologischen Naivität“ auch ihr Orientierung geboten, berichtet Barbara Honigmann.

Moritz Reininghaus

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