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Frauen picknicken im neuen Skulpturenpark am Roten Meer vor einer Plastik von Henry Moore.

© Katharina Eglau

Moderne Kunst in Saudi-Arabien: Eine Frage der Haltung

Moderne Kunst erlebt im ultrakonservativen Saudi-Arabien einen Aufschwung. Zu Besuch in der Hafenstadt Jeddah.

Für Saudi-Arabiens YouTube-Komiker waren Künstler stets leichte Beute. „Hurra, endlich gibt es gute Nachrichten“, albert Omar Hussein in seinem Online-Satireprogramm „Al Tayer“, „die saudische Kunstvereinigung gibt die Eröffnung ihres unabhängigen Zentrums bekannt.“ Neben dem Spaßmacher erscheint das Foto eines kleinen, abgeranzten Quaderbaus. In der nächsten Szene des Sketches zerschneidet ein saudischer Prinz in goldbesticktem Gewand – unterlegt mit symphonischer Musik von Mozart und umgeben von grinsend-aufgeblasenen Lakaien – das Eröffnungsband. Der erste Blick in das Innere des rumpligen Kunsttempelchens lässt die Festgesellschaft erstarren. Auf einer Matratze liegt ein unrasierter Kreativer und pennt. „Ich hatte dir doch gesagt, du sollst hier verschwinden, wenn wir kommen“, faucht ihn einer der vornehmen Speichellecker an.

Über viele Jahrzehnte war in der Heimat des Propheten Mohammed die offizielle Realität von solchen satirischen Späßen kaum zu unterscheiden. Es gab keine Galerien und Museen, Künstler galten als Sonderlinge, Malerei als westliche Dekadenz. Die ganz wenigen Ausstellungen fanden – wenn überhaupt – in Restaurants oder Cafés statt. Alles hing von der Initiative einiger weniger ab. Seit fünf Jahren nun tut sich was. In dem Königreich, das hauptsächlich wegen seiner kulturfeindlichen, puritanischen Islamdoktrin von sich reden macht, entsteht eine junge professionelle Kunstszene, die auch international Beachtung findet und sich jetzt mit der Kulturwoche 21,39 zum zweiten Mal der Öffentlichkeit präsentiert hat.

1965 fand in Jeddah die erste Kunstausstellung statt

21,39 sind der Längen- und Breitengrad von Jeddah, der vergleichsweise polyglotten Hafenstadt, in der sich immer häufiger die Wege einheimischer und internationaler Künstler kreuzen. „Fast jede Woche gibt es in der Stadt eine Vernissage – es war also nicht alles vergeblich“, frohlockt Dara Safeya Binzagr, die große alte Dame der saudischen Malerei. In ihrer Jugend hat sie in Ägypten und Großbritannien studiert. 1968 stellte sie als erste saudische Frau in einer Schule Porträts und Zeichnungen aus, in dem Gästebuch von damals standen vor allem ausländische Diplomaten.

Viele Nachwuchskünstlerinnen verehren die 74-jährige Pionierin als Vorbild und Mentorin. Taucht sie in ihrer blau-gestickten Abaja bei einer Vernissage auf, ist sie sofort von jungen Frauen umringt. Heute gibt es mehr als ein Dutzend saudische Künstlerinnen von internationalem Rang. Zu den bekanntesten gehören die Konzeptkünstlerin Maha Malluh, die mit ihrer Serie „Food for Thought“ auch auf der diesjährigen Art Basel zu sehen war, sowie die Schwestern Shadia und Raja Alem, die eine Malerin, die andere Schriftstellerin. 2011 vertraten sie als erste Saudis ihre Heimat auf der Biennale in Venedig mit der gemeinsamen Installation „The Black Arch“.

Treibende Kraft hinter dem neuen Aufbruch sind vor allem die Macher der Athr-Galerie, Mohammed Hafiz und Hamza Serafi. Drei Dutzend wohlhabende Bürgerfamilien und Firmen aus Jeddah trommelten sie für das 21,39-Projekt als Sponsoren zusammen und initiierten die erste Retrospektive des saudischen Kunstlebens während der letzten fünf Jahrzehnte, die unter dem Titel „Fast Forward“ in Räumen der Gold Moor Mall im Stadtteil Shatie zu sehen ist.

Alles begann 1960, als der König erstmals eine Handvoll talentierter Landsleute nach Ägypten und Italien schickte, um sie als Kunstlehrer ausbilden zu lassen. 1965 fand in Jeddah die erste Kunstausstellung des Königreichs statt, zu der seinerzeit zehn Gäste erschienen. 1989 wurde im Dorf Maftaha die erste und einzige Künstlerkolonie gegründet, die bis heute existiert. 1994 gab es die erste Gemeinschaftsausstellung einer Künstlerin und eines Künstlers. 2006 öffnete in Riad die erste Galerie mit internationalem Niveau, zwei Jahre später gelang der zeitgenössischen saudischen Kunst mit „Edge of Arabia“ in London der internationale Durchbruch.

In Saudi-Arabien gibt es Restriktionen und Grenzen

„Wir sind noch im Kleinkindstadium, es ist wichtig, bescheiden zu bleiben. Aber wir werden immer aktiver und sichtbarer“, erläutert Athr-Mitbesitzer Mohammed Hafiz, der einer prominenten Zeitungsfamilie aus Medina entstammt. „Wir versuchen auf allen Ebenen Einfluss zu nehmen, um das Leben zu verwirklichen, nach dem wir uns sehnen.“ Kunst habe nicht nur eine ästhetische und spirituelle Seite, wie viele Saudis glaubten, sondern auch eine soziale und politische Dimension. Ja, es gebe Restriktionen und Grenzen, räumt er ein. Saudi-Arabien sei eben ein extrem konservatives Land. Jeder Künstler aber müsse die roten Linien für sich selbst herausfinden.

Wie delikat dieser Balanceakt nach wie vor ist, zeigt sich bei der Eröffnung der Ausstellung „Insert Range Here“ in der Athr-Galerie. „Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit“ schreibt einer der ausstellenden Künstler, umringt vom Premierenpublikum, mit schwarzem Filzstift in Arabisch und Englisch an die Wand – der Twitter-Satz, der dem Blogger Raif Badawi zehn Jahre Haft, 1000 Stockschläge und 230 000 Euro Geldstrafe einbrachte. Als er merkt, dass auch ausländische Journalisten seine Performance beobachtet haben, bittet er inständig darum, seinen Namen nicht zu erwähnen.

Künstler Abdulnasser Ghanem: "Habt mehr Haltung"

Der momentan teuerste zeitgenössische Künstler der arabischen Welt ist Abdulnasser Ghanem, ein ehemaliger saudischer Oberstleutnant. Groß wie Mühlräder sind seine Holzstempel, die auch in der Retrospektive „Fast Forward“ vertreten sind. „Habt ein wenig mehr Haltung“ hat er in roten Buchstaben auf das Stempelgummi geschrieben und wirbt für „etwas mehr intellektuelle Klarheit, etwas mehr Rückgrat und etwas mehr Vertrauen in eure eigenen Überzeugungen“.

Zu den Nachwuchsstars gehört Nasser Al-Salem, der bereits im Lacma-Museum in Los Angeles, im British Museum in London und im Centre Pompidou in Paris zu sehen ist. Der 30-Jährige hat einen Herzmonitor aus der Intensivstation installiert, dessen EKG-Kurve – mit arabischer Vokalpunktierung versehen – gleichzeitig zum Koranvers wird. „Gott geleite uns auf dem rechten Weg“ lässt sich aus der grünen Amplitude herauslesen. Durch das Bilderverbot im Islam habe sich viel optische Kreativität auf die Visualisierung von Koranversen verlagert, erklärt Nasser Al-Salem, dessen Familie in Mekka jahrzehntelang Zelte für Pilger fertigte. Die kunstvolle und hochästhetische Kalligrafie gewinnt den heiligen Texten zusätzliche Bedeutungsebenen ab. Und so verschmilzt in Nasser Al-Salems EKG der wissenschaftliche Herztakt mit der Herzensangelegenheit – dem Grundanliegen aller Religion, nämlich der Sehnsucht nach einem sinnvollen Leben.

Mit ihrer Initiative möchten die agilen saudischen Kunstförderer wieder an die großen Zeiten von Jeddah anknüpfen. Schon einmal, in den siebziger Jahren, bevor das Königreich nach der Geiselnahme in der Kabaa von Mekka 1979 in eine dreißigjährige, islamistische Schockstarre verfiel, zählte die Hafenstadt am Roten Meer neben Beirut, Kuwait und dem Teheran des persischen Schahs zu den nahöstlichen Metropolen mit dem aktivsten Kulturleben. Den Ruf verdankte sie vor allem ihrem damaligen Bürgermeister Mohamed Saeed Farsi, einem kunstsinnigen und weitsichtigen Mann, der in Alexandria studiert hat und heute seinen Lebensabend in Kairo verbringt. Nach seinem Amtsantritt 1972 während des ersten Ölbooms verpflichtete er alle Investoren, einen Bruchteil der jeweiligen Bausumme für öffentliche Kunstwerke zu spenden. 500 Skulpturen im damaligen Ankaufswert von 150 Millionen Dollar kamen zusammen, in Jahren, als auch New York, Chicago und London erstmals Kunstwerke im urbanen Raum aktiv zu fördern begannen. In Jeddah waren die Monumentalwerke zunächst sogar Orientierungspunkte für die Autofahrer, weil es nur wenige Straßennamen gab.

Der Skulpturenpark hat sich zu einem beliebten Treffpunkt entwickelt

Bald setzten hohe Luftfeuchtigkeit und harte Wüstenstürme den Skulpturen genauso zu wie die gezielte Vernachlässigung durch Farsis Nachfolger. Die ultraorthodoxe wahhabitische Restauration nach 1979 erklärte figurative Darstellungen zum Tabu. Kunstunterricht in Schulen und Hochschulen wurde abgeschafft. Erst 2011, inspiriert durch den Arabischen Frühling, wagte es eine Bürgerinitiative, sich dieses einmaligen urbanen Erbes wieder anzunehmen.

27 Werke ließen die Initiatoren von einer britischen Spezialfirma restaurieren und fassten sie an der Corniche zu einem Skulpturenpark zusammen. Im August 2014 eröffnet, hat sich das Gelände mit Blick auf das Rote Meer zu einem beliebten Familientreffpunkt entwickelt. Auf den neu angelegten Rasenflächen stehen Schöpfungen von Henry Moore, Alexander Calder, Joan Miro, Arnaldo Pomodoro, Victor Vazarelly sowie des Ägypters Mustafa Sunbul und des Syrers Rabia Al Akhras. Grillrauch wabert zwischen den weltberühmten Plastiken, Kinder lassen Drachen steigen und auf Wolldecken picknicken ganze Großfamilien. Väter herzen ihre Babys, voll verschleierte Frauen hocken stumm neben bauchigen Teekannen. Über dem Meer steht leuchtend die Abendsonne, während in Alexander Calders knallroter Skulptur „Flexibility of Balance“ der zweijährige Waisal herumtollt. Vater Musaid, der im Gesundheitsministerium arbeitet, folgt schmunzelnd seinem ausgelassenen Spross. Wie praktisch alle hier, hat er keinerlei Ahnung, zwischen welchen Kulturschätzen er campiert. „Ich komme jede Woche, ich mag den Park“, sagt er. „Über die Künstler würde ich gerne mehr wissen.“

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