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Tentakel in Aktion. „Kg Augenstern“ kratzt mit teleskopartigen Fiberglasruten an Brücken und nimmt den Sound auf.

©  Kg Augenstern

Mit dem Schiff unter Brücken: In der Luft fischen

Christiane Prehn und Wolfgang Meyer erforschen als Kunstduo "Kg Augenstern" den Klang von Brücken und verlassenen Orten.

Die unter Brücken kratzen: Christiane Prehn und Wolfgang Meyer ertasten als Künstlerduo "Kg Augenstern" die Überführungen von unten.

Mit ihren Tentakeln erforschen die 60-Jährigen die Welt. An ihr Schiff haben sie teleskopische Fiberglasruten angebracht. Sie sehen aus wie Angeln, die nicht im Wasser, sondern in der Luft fischen.

Jede Brücke hat ihre eigene Klangidentität

Prehn und Meyer gehörten vor mehr als zehn Jahren zu den Ersten, die auf dem Rummelsburger See in Friedrichshain anlegten. Und da Berlin bekanntlich mehr Brücken hat als Venedig, gibt es einiges zu erforschen. Die Künstler fahren unter die Brücken und kratzen mit den Ruten an ihnen entlang, nehmen die Geräusche auf.

„Jede Brücke hat ihre eigene, durch Form, Konstruktion, Material und Verwendungszweck hervorgerufene Klangidentität“, sagt Meyer am Telefon. Prehn erinnert sich an die Elsenbrücke als erstes Untersuchungsobjekt: „Die war nicht schlecht, die hatte einen guten Klang.“

Der Sound der Weidendammbrücke ist auf Soundcloud zu hören. Die 23 Sekunden klingen nach Metallstangen, die über etwas anderes Metallenes schaben. Interessanter seien allerdings Pariser Brücken, so Prehn. „Die Konstruktionen waren vielfältiger, dort entstanden richtige Komposition. Da sind schon fast Ornamente in der Stahlkonstruktion, das ist schön, die zu fühlen und zu hören.“

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Über 250 Brücken in ganz Europa haben sie untersucht. Die längste Reise führte das Schiff 2014 über Flüsse und Kanäle von Berlin durch die Niederlande und Belgien bis Südfrankreich. Die beiden geben an, alle aufgenommenen Brücken am Klang und am Rhythmus erkennen zu können – und an den Umgebungsgeräuschen, die mit aufgenommen werden. Die Klangkunst ist dabei allerdings nicht das primäre Ziel. Viel mehr geht es um die Performance und das Experimentieren: Konzeptkunst mit Klangerzeugnissen.

Sie setzten die Fassadenveränderung eines Hochhauses in Klang um

Kg Augenstern macht aber nicht nur in Brücken. 2012 haben sie sich mit dem Hochhaus der Allianz Versicherung am Spreeufer beschäftigt. Im Tagesverlauf verändert sich das Aussehen der Fassade permanent, durch das Öffnen und Schließen der Rollos sowie das An- und Abschalten der Beleuchtung in den Räumen.

„Hier entsteht eine Komposition von zufälligen Aktionen, von den Menschen, die dort ein und aus gehen, dort arbeiten“ so Prehn, die Bildende Künstlerin und Bildhauerin ist und an der Akademie der Künste in Stuttgart studiert hat.

Einen Tag lang haben sie und Meyer alle vier Seiten des Hochhauses einmal pro Stunde fotografiert und die Vorgänge auf ein zwei Meter hohes Modell des Gebäudes projiziert, die Veränderungen an der Fassade des Originals nachempfunden, diese dann in Farben und Klänge übersetzt. Jede Seite des Hochhauses zeigt ein sich veränderndes Mosaik aus farbigen Glassteinen, die sich wie das Öffnen und Schließen der Rollos im Original bewegen.

Die Farbpatterns des Mosaiks werden, wie eine Partitur, in elektronisch erzeugte Töne umgesetzt und die Kompositionsdauer von 24 Stunden auf 240 Sekunden komprimiert. Zur Nachtzeit hört man wenig, dann summt es wie ein Bienenstock. „Eine Komposition der Arbeit in dem Haus“, sagt Prehn.

Zur Documenta brachte "Kg Augenstern" 50 Kanister Wind mit

Bei einem anderen Projekt hat das Duo in einer 48-stündigen Performance die Schöpfungsgeschichte aus der Bibel im Neuköllner Schifffahrtskanal aufgeführt. An die Ufermauern brachten sie bunte Oblaten in einer Reihenfolge an, die dem Schöpfungstext entspricht. Die entstandene Farbpartitur wurde auf dem Boot live als Klangfolge gespielt.

Ein Nachbau der „Treptowers“, das auch den Sound des Gebäudes erzeugt.
Ein Nachbau der „Treptowers“, das auch den Sound des Gebäudes erzeugt.

© Kg Augenstern

Zur Documenta 13 in Kassel, ebenfalls 2012, brachten Prehn und Meyer, die in Friedrichshain wohnen, über 50 Kanister Wind mit, eingesammelt auf dem Weg nach Hessen – beschriftet mit genauen Angaben zu Ort, Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Luftdruck und einem Foto. Die Kanister waren dann Teil der Documenta-Ausstellung.

Für ihr letztes Projekt im November 2019 haben Prehn und Meyer ihr „schwimmendes und tönendes Labor“ verlassen und sind in Sizilien an Land gegangen, um dort verlassene Orte und Ruinen mit ihren Tentakeln abzutasten.

Bunte Oblaten, der Leib Christi, am Spreeufer.
Bunte Oblaten, der Leib Christi, am Spreeufer.

© Kg Augenstern

„Wir wollten den ihm eigenen, spezifischen Klang eines jeden Ortes erforschen. Die Untersuchung wurde ergänzt durch Experimente mit roher Schafwolle und Ton, sowie in den Ruinen vorgefundenen Materialien“, erzählt Meyer. „Die Orte befinden sich in einen Zustand zwischen menschlicher Anwesenheit und ihrer Abwesenheit.“

Documenta-Besucher 2012 in Kassel begutachten die Kanister mit Wind.
Documenta-Besucher 2012 in Kassel begutachten die Kanister mit Wind.

© Kg Augenstern

So zum Beispiel die Kapelle der Santa Maria del Sabato in Palermo, die mal eine Moschee, dann eine Synagoge und später ein christlicher Betsaal war – und nun verlassen ist. Hier fand die Ausstellung „Tentacles in Sicily – scratching the surface“ statt. Das dazu entstandene Buch mit CD „Circles and cycles“ ist gerade beim Klangkunstlabel „Grünrekorder“ erschienen.

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