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Energiebündel. Miss Red heißt eigentlich Sharon Stern. Sie kam vor drei Jahren nach Berlin. Ihr polnischer Vater, dessen Eltern den Holocaust überlebten, kann das nicht verstehen. Doch hier wird sie gefördert – in Israel nicht.

© Kasia Zacharko

Miss Reds Debütalbum „K.O.“: Eine Israelin bringt jamaikanischen Dancehall nach Berlin

Die jüdische Dancehall-Sängerin Miss Red lebt seit drei Jahren in Berlin. Ihr Debütalbum „K.O.“ ist eine musikalische Wucht. Eine Begegnung mit der Powerfrau.

„K.O.“ lautet der Titel von Miss Reds erstem Album. Auf dem Cover ist passend dazu das Foto eines athletischen Mannes in Kampfpose zu sehen. Begegnet man Miss Red, die eigentlich Sharon Stern heißt, trifft einen deren Power auch gleich wie ein rechter Haken. Die Frau mit den wilden Locken umarmt einen, als sei man ihr Bruder, und redet dann so locker und ungezwungen über ihre Musik und ihr Leben, als würde man sich bereits seit Jahren kennen. Die ungeheure Energie ihrer Platte kommt von einer Person, die schier platzt vor Vitalität.

Man kann sich deshalb auch leicht die Szene vorstellen, die sich vor sechs Jahren in Tel Aviv abgespielt hat, wo Miss Red damals noch lebte, und die der Ausgangspunkt für ihr Debütalbum ist. Damals spielte der Londoner Dancehall-Produzent Kevin Martin alias The Bug, der inzwischen ebenso wie Miss Red in Berlin lebt, einen Gig in einer kleinen Bar. „Es war ein inoffizielles Konzert, bei dem nur 50 Gäste auftauchten. Ich erfuhr von ein paar Freunden, dass The Bug auftreten würde, und wollte ihn unbedingt sehen“, sagt Miss Red in einem kleinen Café am Schlesischen Tor. „Ich bin dann einfach irgendwann auf die Bühne gehüpft, habe mir ein Mikro geschnappt und zu den Beats gesungen.“ Es wurde eine lange Nacht, Kevin Martin wollte die Israelin gar nicht mehr gehen lassen. Am nächsten Tag mieteten die beiden ein Studio in Tel Aviv und produzierten die erste Single von Miss Red, die unter dem Titel „Diss Mi Army“ veröffentlicht wurde. Kevin Martin, längst einer ihrer besten Freunde, hat nun auch ihr Album produziert.

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Miss Red ist Dancehall-Sängerin. Dancehall ist eine modernere, härtere Version von Reggae, mit digitalen Beats und nicht selten zweifelhaften Texten. Erst vor Kurzem wurde der Auftritt des in Jamaika äußerst populären Dancehall-Stars Bounty Killer in Berlin abgesagt, mit der Begründung, er habe sich nicht glaubwürdig von seinen schwulenfeindlichen Texten distanziert, die er vor Jahren geschrieben hat. Dancehall kann überhaupt ein ziemliches Macho-Genre sein, bei dem homophobe Inhalte leider eine lange Tradition haben. Miss Red ist mit dieser Musik aufgewachsen, bereits in Haifa, wo sie vor ihrer Zeit in der israelischen Armee lebte, war sie Mitglied der lokalen Easy Rider Crew, einem Dancehall-Soundsystem nach jamaikanischenm Vorbild. Natürlich war sie neben fünf Männern die einzige Frau in der Gruppe.

Ihr sei die Problematik mit der Homophobie im Dancehall sehr wohl bekannt, erklärt Miss Red, die sich selbst als queer bezeichnet und sowohl auf Männer als auch auf Frauen steht. Sie geht das Problem dialektisch an: Als Capleton, einer der schlimmsten Machos des Genres und gleichzeitig einer ihrer liebsten jamaikanischen Dancehall-Sänger, einmal in Israel auftrat, hat sie zuerst mit einer Gruppe von Leuten gegen seine homophoben Texte demonstriert und sich danach sein Konzert angeschaut. In der Dancehall gebe es aber auch jede Menge Frauen, die meist weit weniger berühmt und erfolgreich sind als die Männer. Das seien ihre wahren Vorbilder: Lady Ann, Lady P, Lady Saw, Sister Nancy – Miss Red zählt eine ganze Reihe dieser Dancehall-Sängerinnen auf, die sie bewundere.

Mit Schaudern erinnert sie sich an ihre Zeit im israelischen Militär

Wenn man sich mit ihr auf Englisch unterhält, fällt sofort ihr seltsamer Slang auf. Sie redet tatsächlich in einer Art Patois, einem auf Jamaika gebräuchlichen Englisch. Und sie singt auch auf Patois. Wenn man sie fragt, ob sie das nicht etwas komisch finde, dass sie sich als Israelin eine typisch jamaikanische Sprache angeeignet habe, sagt sie, dass dies eben das Englisch sei, mit dem sie sozialisiert wurde. Wenn jemand sein halbes Leben lang Reggae und Dancehall hört, färbt das auf sein Englisch ab. Außerdem finde sie, dass Dancehall und damit auch Patois längst universell seien. Sie weist darauf hin, dass auch Hip-Hop seine Ursprünge in der jamaikanischen Musiktradition habe und sich Dancehall, genau wie Hip-Hop, inzwischen auf der ganzen Welt verbreitet habe. „Dancehall ist überall“, sagt sie, „Dancehall ist international.“ Auf Jamaika selbst war sie übrigens noch nie.

Miss Red ist also eine in Berlin lebende Jüdin, deren Vater aus Polen stammt und deren Mutter Marokkanerin ist und die in jamaikanischem Patois Dancehall macht. Von ihrer Heimat Israel habe sie sich inzwischen etwas entfremdet, sagt sie. Mit Schaudern erzählt sie von ihrer Zeit beim Militär – in Israel müssen auch Frauen einen zweijährigen Wehrdienst leisten –, wo sie in einem Chor landete. Es muss schrecklich gewesen sein, ihre Nummer „Diss Mi Army“ sei eine Art Abrechnung mit „der beschissenen Armee“. In ihrer Zeit dort habe sie sich „eigentlich jeden Abend betrunken“. Später habe ihre Aufgabe darin bestanden, Holocaust-Überlebenden Dankeskarten zu überreichen. „Es gab kein Geld, aber diese Karten, es war einfach nur würdelos“, erzählt sie.

Zeug zum Star

Bevor Miss Red vor drei Jahren nach Berlin-Wedding gezogen ist, lebte sie eine Weile in London. Dort gibt es eine lebendige Reggae- und Dancehall-Szene, die von jamaikanischen Migranten und ihren Nachkommen geprägt ist. Die Stadt habe ihr super gefallen und sie würde am liebsten immer noch dort leben, sagt sie, aber ihr Visum sei irgendwann nicht mehr verlängert worden. In Berlin dagegen, wo sie in Kreuzberg ein kleines Studio hat, habe sie nun eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis bekommen. In ihrer Familie seien viele Angehörige im Holocaust umgekommen, erzählt sie, und ihr Vater würde immer noch nicht verstehen, wie sie als Jüdin ausgerechnet in Berlin gelandet ist. Doch hier habe sie schon bald nach ihrer Ankunft eine Förderung vom Musicboard bekommen. In Israel, da ist sie sich sicher, hätte sie darauf lange warten können.

Und nun bringt sie „K.O.“ heraus, eine Platte, die das Potenzial hat, weltweit mächtig einzuschlagen. Die Bässe grummeln, die Beats zischeln, roh und direkt springt einen diese hochexplosive Musik an. Und Miss Red singt, toastet und chantet sich dazu die Seele aus dem Leib. Dancehall hat einen neuen internationalen Star – und der ist eine Frau aus Berlin.

„K.O.“ erscheint bei Pressure/Rough Trade. Record-Release-Konzert am 21. Juli um 23.30 Uhr im Gretchen.

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