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Oft kein Herz, eine zerrissene Seele. Alaine Polcz und Miklós Mészöly in jungen Jahren.

© R/D

Miklós Mészöly 100: Mäuse und Menschen

Er war der große Erneuerer der ungarischen Nachkriegsliteratur. Zum 100. Geburtstag wird Miklós Mészöly nun ein Gedenkjahr gewidmet. Die Zeitschriftenkolumne.

Von Gregor Dotzauer

Schriftsteller kann man nur in dem Maß vergessen, in dem sie einmal populär waren. Miklós Mészöly aber war nie wirklich populär – außer unter seinesgleichen. An ungarischen Gymnasien wird zwar bis heute seine Kurzgeschichte „Bericht über fünf Mäuse“ aus dem Jahr 1958 gelesen. Mit objektivistischer Härte erzählt sie von der Ausrottung eines Mäusequintetts, ohne dass die menschliche Instanz dahinter jemals sichtbar wird: eine allegorische Darstellung des totalitären Vernichtungswillens im 20. Jahrhundert.

Von der Erneuerungskraft, mit der er in den nachfolgenden Jahrzehnten durch die pannonischen Tiefebenen einer unter dem sozialistischen Kulturdiktat ausgeleierten realistischen Prosa fegte, gibt sie nur einen vagen Eindruck. Das Gedenkjahr, das ihm zu seinem 100. Geburtstag am 19. Januar nun gewidmet wird, bietet ihm von daher die Chance, auf ein zweites Leben – zumal die Bedingungen, Mészölys kristallin ausgehärtete, überscharfe Beschreibungskunst und seine wesentlich undurchsichtigere Persönlichkeit zu verstehen, nie besser waren.

Zwanzig Jahre nach Mészölys Tod im Juli 2001 hat der Literaturwissenschaftler Dávid Szolláth die Pionierarbeit seiner Lehrerin Beáta Thomka fortgesetzt und sich auf 740 Seiten noch einmal durch alle Entwicklungsphasen des Werks gearbeitet. In Mészölys Budapester Hausverlag Jelenkor liegt seit 2017 außerdem die fast tausendseitige Korrespondenz mit seiner Frau, der aus Siebenbürgen stammenden Psychologin Alaine Polcz vor.

Sie ist das Dokument einer Ehe mit Strindbergschen Abgründen, in der zwei, die oft genug kein Herz, wohl aber eine zerrissene Seele waren, nicht voneinander lassen konnten. Er ein hoffnungsloser Don Juan, sie eine allzu generöse Dulderin, die erst in späten Jahren die Machtverhältnisse umdrehte. Beschäftigen kann man sich mit alledem unter anderem in einem Online-Dossier von Ungarns maßgeblichem Literaturportal (litera.hu/dosszie/meszoly-miklos.html): Google Translate macht’s möglich.

Auch hierzulande wäre er fast einmal berühmt geworden. 1974 bildete er die Speerspitze einer vielgestaltigen Bewegung, die im Schutz des Berliner Künstlerprogramms des DAAD einer ganzen Generation junger Ungarn, die heute zu den großen Namen aus Mitteleuropa zählen, den Weg in den deutschen Literaturbetrieb ebnete.

Freundschaftlich verpflichtet waren Mészöly insbesondere Péter Esterházy, László Krasznakorkai und Péter Nádas, in dessen kühler Schreibweise sich allerdings der einzige unmittelbare Einfluss dieser in ihrem überkonzentrierten Stil kaum imitierbaren Vaterfigur zeigt. Neben vielen anderen magyarischen Literaturgrößen treten sie als Zeugen in „Privát Mészöly“ auf, einer dichten Dokumentation des Schriftstellers Péter Geröcs (englisch untertitelt auf youtube.com/watch?v=bXPfVitiBQE).

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In Berlin entstand auch Mészölys bedeutendstes Buch, der Roman „Rückblenden“, der in antipsychologischer, nouveau-roman-artiger Außensicht einem alten Ehepaar durch Budapest folgt, direkt vor Mészölys Haustür im 12. Bezirk. Auf Deutsch erschien er im Hanser Verlag, der sich in der vergeblichen Hoffnung, sein Autor werde eines Tages den Nobelpreis erhalten, jahrelang um Mészöly bemühte, ehe die Beziehung abkühlte.

Die Relikte dieser Zeit finden sich für wenig Geld noch in den Antiquariaten. Frühe Texte wie die grausame Falknergeschichte „Hohe Schule“ aus „Landkarte mit Rissen“ lohnen dabei ebenso wie spätere, zusehends fragmentierte wie „Geflügelte Pferde“, die Titelerzählung des gleichnamigen Bandes. Texte, die im mitleidlosen Blick auf das menschliche Miteinander und seine Einsamkeiten vordergründig unpolitisch sind, in den osteuropäischen Kontexten, in denen sie heranreiften, aber ein hohes Maß einzelgängerischer Sprengkraft besaßen.

Einen neuen Anlauf, Miklós Mészöly lebendig zu machen, will Anfang 2022 die österreichische Edition Thanhäuser unternehmen. Bis dahin sollte man getrost noch einmal die alten Schätze heben.

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