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Zwischen Clown und Clochard. Michel Houellebecq inszeniert sich als Antityp der Medienwirksamkeit und wird genau dadurch medienwirksam.

© Martin Bureau/AFP

Michel Houellebecq und Schopenhauer: Komödie des Willens

Annäherung an einen Undurchschaubaren: Michel Houellebecq zelebriert in einem Essay das Denken von Schopenhauer. Die Journalistin Julia Encke wagt sich an ein Porträt des französischen Romanciers.

Als Schopenhauerianer befindet sich Michel Houellebecq in bester Gesellschaft. Kein anderer Philosoph hatte eine solche Wirkung auf Literaten, Künstler und Musiker. Richard Wagner, Nietzsche, Friedrich Hebbel, Wilhelm Busch, Tolstoi, Thomas Hardy, Guy de Maupassant, Thomas Mann, Samuel Beckett, Thomas Bernhard oder Aleksandar Tišma – sie alle waren Anhänger von Schopenhauers Lehre oder ließen sich zumindest stark beeindrucken von seiner skeptischen Weltweisheit. Auch in Frankreich gab es eine bedeutende Schopenhauer-Rezeption. Flaubert hat ihn gelesen, Proust war Schopenhauerianer, der Pariser Erzpessimist Emil Cioran wäre ohne ihn kaum denkbar.

Deshalb ist es nicht ohne Witz, wenn Houellebecq auf den ersten Seiten seines Schopenhauer-Essays erzählt, wie ihn die „Welt als Wille und Vorstellung“ gleichsam als klandestine Botschaft erreicht. Zwei Wochen muss der 25-jährige Student in Antiquariaten suchen, bis er endlich ein Exemplar aufstöbert: „Da waren wir in Paris, einer der bedeutendsten europäischen Hauptstädte, und das wichtigste Buch der Welt wurde nicht einmal nachgedruckt.“ Das ist natürlich eine Spitze gegen die Pariser Intellektuellenszene: immer noch im Bann von Achtundsechzig, von Strukturalismus, Poststrukturalismus und Neoneomarxismus. Und, was die deutsche Philosophie betrifft, eingeschworen auf den kaum übersetzbaren Heidegger und einen sehr einseitig verstandenen Nietzsche.

Seine Romane lassen sich als bittere Komödie des Willens lesen

Houellebecqs Büchlein hat gerade mal 70 Seiten, mehr als ein Drittel sind Zitate. Das entspricht der Ankündigung: Keine analytische Abhandlung will er bieten, sondern eine kommentierte Blütenlese seiner Lieblingsstellen, als Evidenzbeweis dafür, dass „Schopenhauers Geisteshaltung in meinen Augen noch immer geeignet ist, allen nachfolgenden Philosophen als Vorbild zu dienen.“ Was nun doch ein wenig sonntagsredenhaft klingt.

Fasziniert ist er vom „geschlossenen System“ Schopenhauers und seiner Willensphilosophie. Im üblichen Sprachgebrauch ist der Wille eine Instanz der souveränen Persönlichkeit; die Fundamente der Justiz würden ohne die Annahme eines „freien“ Willens und der aus ihm resultierenden Schuldfähigkeit zusammenbrechen. Schopenhauers „Wille“ dagegen durchkreuzt diese Souveränität – es ist der blinde, universelle Lebensdrang, ein ewiges, unerfülltes Sehnen und Begehren, das durch die ganze Natur geht. Der „Wille“ treibt den Menschen zu Handlungen, die er, wenn er bei Vernunft wäre, womöglich lieber vermeiden würde. Houellebecqs Romane lassen sich als bittere Komödien des „Willens“ lesen, sie schildern Triebschicksale in der liberalen Sexualökonomie, die zur Pauperisierung der nicht konkurrenzfähigen Individuen führt.

Houellebecq idealisiert Schopenhauer

Vor allem aber versteht Houellebecq Schopenhauer als Künstlerphilosophen. Zwar wurde schon in der Weimarer Klassik die Ästhetik zur Leitdisziplin, aber Schopenhauer geht weiter: „Als einziger unter den Philosophen seiner Zeit wird er kühn ins Reich der Autoren, der Musiker und Bildhauer vordringen“ – und die ästhetische Wahrnehmung der Welt als Ausstieg aus dem Leidenskarussell des Willens empfehlen. Betrachten statt Begehren, das ist die Losung. Die innovative Idee Schopenhauers habe darin bestanden, Schönheit nicht als Eigenschaft zu begreifen, die bestimmten Dingen innewohnt oder anhaftet, sondern als Effekt der interesselosen Betrachtung. Nur der Kitsch, ließe sich definieren, sucht die Schönheit im Gegenstand.

Houellebecq begreift seinen Lieblingsphilosophen als Vorläufer von Marcel Duchamp, der ein Urinal zum Kunstwerk erklärte. Allerdings übersieht er, dass es Duchamp dabei nicht um eine „von aller Reflexion und aller Begierde losgelöste Betrachtung der Dinge der Welt“ ging, sondern um die Ironisierung des überkommenen Kunstbegriffs, um Provokation. Was wiederum Houellebecqs eigener Romanpoetik näher steht als Schopenhauers Ideal des ästhetischen Zustands. In Wahrheit war aber auch Schopenhauer ein streitbarer Intellektueller; ein erheblicher Teil seines Denkens ist nicht inspiriert von „interesseloser Betrachtung“, sondern von der Wut über den Zeitgeist und die Meisterdenker seiner Epoche – „Spaßphilosophen“ und „Papierverderber“ wie Hegel. Wenn Houellebecq behauptet, dass Schopenhauer „für die Ewigkeit schrieb, ohne sich um die Vorurteile seiner Epoche zu scheren“, so geht das an Schopenhauers Schreibwirklichkeit vorbei.

Es hat fast etwas Komisches, sich den Verfasser von „Elementarteilchen“ und „Unterwerfung“ als Autor zu denken, der „die Gabe einer reinen, unverdorbenen Beobachtung“ pflegt. Aber falsch ist es auch nicht, wenn man behauptet, er habe das Elend der mittleren Angestelltenwelt mit „unschuldiger Aufmerksamkeit“ ins Auge gefasst, unter besonderer Berücksichtigung der Genitalien als „Brennpunkt“ des Willens: „Nehmen wir einmal das spontane, unschuldige, ganz instinktive Verlangen, durch das wir uns zu einem jungen Mädchen mit begehrenswerten Rundungen hingezogen fühlen“, erläutert er im Kapitel „So objektiviert sich der Wille zum Leben“. Houellebecqs Hommage hat starke Momente, bleibt im Ganzen aber ziemlich oberflächlich. Lieber sollte man sich die „Aphorismen zur Lebensweisheit“ gönnen, die Houellebecq am Ende als Schopenhauers „sicherlich brillantestes, zugänglichstes und amüsantestes Buch“ rühmt.

Feier des Widersprüchlichen

Oder aber Julia Enckes „Porträt des Provokateurs“ Houellebecq lesen, das auf 200 Seiten zwar keine konsistente Biografie, aber eine schlüssige Verbindung von Reportage und Werkdarstellung bietet. Es wird deutlich, dass sich bei Houellebecq zwei Strategien verbinden. Eindeutig anmutende Provokationen und plakative Thesen stehen im Kontext relativierender literarischer Verwirrspiele. Mit einiger Amüsiertheit vermischt er die Rede seiner Figuren mit den eigenen öffentlichen Äußerungen. Die Kritiker „saßen in der Klemme, weil manchen nicht ganz klar war, was sie eigentlich besprechen sollten, die Bücher oder den Autor“, schreibt Encke. Wer diesen Schriftsteller wörtlich nimmt, hat ihn meist schon missverstanden; missverstehen wird seinen eigenwilligen Humor aber auch, wer ihn nicht genau liest.

Houellebecq, so Encke, zelebriere in seinen Büchern lauter Widersprüche – etwa den, „die sexuelle Befreiung einerseits zu dem zu erklären, was die letzten Formen von Gemeinschaft verfallen ließ, und die durch sie entstandenen Möglichkeiten in den Sexszenen, die ihn berühmt machen sollten, andererseits voll auszukosten“. Er verbinde Motive linker Kapitalismuskritik mit reaktionärer Rumpelei. Indem er sich als „Antityp der Medienwirksamkeit“ inszeniert, ist er besonders medienwirksam. Zwischenzeitlich sah er aus wie ein Clochard – und zitierte damit doch nur Größen wie Céline und Artaud. Encke hat Houellebecq mehrfach interviewt und ihn bei der – ziemlich missglückten – Verfilmung seines Romans „Die Möglichkeit einer Insel“ in Aktion erlebt. Jedenfalls versteht sie sich auf die Ambivalenzen seiner Romane, was ihrem Porträt jenseits der anekdotischen Umkreisung einer charismatischen Berühmtheit die Prägnanz gibt.

Michel Houellebecq: In Schopenhauers Gegenwart. Aus dem Franz. von Stephan Kleiner. DuMont, Köln 2017. 76 S., 18 €.

Julia Encke: Wer ist Michel Houellebecq? Porträt eines Provokateurs. Rowohlt Berlin 2017. 255 Seiten, 19,95 €.

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