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Ist er’s wirklich? Michel Houellebecq nach der Prix Goncourt-Verleihung 2010.

© AFP

Michel Houellebecq: Der Welt bin ich nun überdrüssig

Roman oder Autobiografie? Mit "Karte und Gebiet" übt sich Michel Houellebecq in letzten Worten. Soll man das nun für den Abschied von der Literatur halten, gar für das letzte Wort in eigener Sache?

Von Gregor Dotzauer

Für seinen Freund Dominique Noguez war er der „Baudelaire der Supermärkte“. Sich selbst stilisierte er zum „Zarathustra der Mittelschicht“. Mit seinem jüngsten Roman „Karte und Gebiet“ aber hat sich Michel Houellebecq zum Montaigne der Konzeptkunst geadelt: Erzählen heißt sterben lernen, und Literatur ist dabei nur das Vehikel. Wie heißt es in einer Grabinschrift der römischen Stoiker, die heute noch Todesanzeigen schmückt? Non fui. Fui. Non sum. Non curo. Bin nicht gewesen. Bin gewesen. Bin nicht mehr. Was kümmert’s mich.

Michel Houellebecq hat sein Leben lang auf diese Unerschütterlichkeit hingearbeitet und die Erschütterbarkeit mit jedem Roman ein Stück weiter abgelegt. In „Ausweitung der Kampfzone“ übte er die gewaltsame Revolte gegen die Gleichgültigkeit der Welt. In den „Elementarteilchen“ ging er zornbebend mit den Imperativen der sexuellen Libertinage ins Gericht und ließ sie mit dem Verfall alles Kreatürlichen kollidieren.

Zuletzt warf er sich in der Zukunftsfantasie „Die Möglichkeit einer Insel“ immerhin noch einmal in die Pose eines nach links wie rechts austeilenden Anarchisten. Jetzt, mit 53 Jahren, scheint er jedoch eine Altersmilde erreicht zu haben, die sich dem Gang alles Irdischen endlich fügt. „Die Welt ist meiner überdrüssig“, zitiert er im Motto Herzog Karl von Orléans, „und ich bin es ihrer gleichermaßen.“ Der Schmerz hat sich in Melancholie verwandelt.

Soll man das nun für den Abschied von der Literatur halten, gar für das letzte Wort in eigener Sache? „Ich glaube“, heißt es, „ich habe inzwischen ziemlich mit der Welt als Narration abgeschlossen – der Welt der Romane und Filme und auch der Welt der Musik. Ich interessiere mich nur noch für die die Welt als Aneinanderreihung – in Poesie und Malerei.“

Der Witz dieser Äußerung besteht darin, dass man sie nicht ohne Weiteres dem Autor Houellebecq zuschreiben darf. Denn „Karte und Gebiet“, als Roman in der dritten Person erzählt, ist eine fiktive Autobiografie, die durch ihre Aufsplitterung in mehrere Figuren auf eine Totalität der Selbstbeschreibung zielt, die nicht vor den Toren der Selbsterkenntnis halt zu machen gedenkt.

Der berühmte Autor dieses Romans, Michel Houellebecq, spiegelt sich nicht nur in der Figur des berühmten Autors Michel Houellebecq, der hier Seite an Seite mit Frédéric Beigbeder und anderen Zeitgenossen auftaucht. Er porträtiert sich vor allem in der Figur des bildenden Künstlers Jed Martin, der sich vom Fotografen zum Maler wandelt, bevor er sich von seinem Werk abwendet.

Schließlich begegnet man ihm in der Figur von Kommissar Jasselin, der einen bestialischen Doppelmord aufzuklären hat, dessen eines, sorgfältig in kleine Stücke und Streifen zerlegtes Opfer eben der Schriftsteller Houellebecq ist. Man erlebt ihn also quicklebendig und postmortal. Die ironische Selbstbezüglichkeit, mit der Houellebecq hier schon einmal seinen Nachruhm inspiziert, ist im Titel angelegt. Denn „Karte und Gebiet“ nimmt ein Theorem auf, das der große Gregory Bateson in seiner „Ökologie des Geistes“ populär gemacht hat. Die map, erklärt er, gehört immer einer anderen Ordnung als das territory an: Sprache ist niemals identisch mit dem Gegenstand, Erkenntnis nie die Sache selbst, Kunst kommt nie mit der Wirklichkeit zur Deckung, auch wenn sie ihrerseits Wirklichkeiten schafft, aus denen neue Kartierungsversuche hervorgehen. So entwerfen die Houellebecq-Figuren dieses Romans zwar Abbildungen in unterschiedlichen Maßstäben, kommen aber nicht über Repräsentationen von Repräsentationen hinaus.

Houellebecq steigert das selbstreflexive Spiel, indem er Jed die erstenErfolge mit dem Abfotografieren von Landkarten feiern lässt. „Noch nie hatte er etwas so Herrliches gesehen, das so reich an Emotionen und Sinn war wie diese Michelin-Karte der Departements Creuse und Haute-Vienne im Maßstab 1:150 000. Die Quintessenz der Moderne, der wissenschaftlichen und technischen Erfassung der Welt, war hier mit der Quintessenz animalischen Lebens verschmolzen. Die grafische Darstellung war komplex und schön, von absoluter Klarheit, und verwendete nur eine begrenzte Palette von Farben. Aber in jedem Örtchen, jedem Dorf, das seiner Größe entsprechend dargestellt war, spürte man das Herzklopfen, den Ruf Dutzender Menschenleben, Dutzender, hunderter Seelen – von denen die einen zur Verdammnis und die anderen zum ewigen Leben berufen waren.“ Ähnlich fasziniert widmet sich Houellebecq Reiseführertexten: Sind sie nicht reicher, dichter und intensiver als alles, was man vor Ort erlebt?

Solche Abbildungen in der Abbildung heißen in der Erzähltheorie mise en abyme. Der schlaue Houellebecq kennt sicher auch dieses Konzept. Nur trifft der Ehrgeiz seiner multiperspektivischen Konstruktion wieder einmal mit einer seltenen Einfalt und Vereinheitlichung der Verarbeitung zusammen. „Karte und Gebiet“ ist Entwicklungsroman, Krimi, Liebesgeschichte, Vaterroman und Satire auf den Kunstbetrieb – doch all das wird gleich leidenschaftslos wegerzählt. Jeds Passion für die schönste Frau von Paris, die Russin Olga, endet abrupt und lässt sich nicht mehr reaktivieren, die Morde werden zum Schluss schnell aufgeklärt.

Wahrscheinlich ist auch das Programm: „Ich weiß genau, dass der Mensch das Thema des Romans, der great occidental novel ist und auch eines der großen Themen der Malerei, aber ich kann den Gedanken nicht zurückweisen, dass sich die Leute gar nicht so sehr voneinander unterscheiden, wie sie es im Allgemeinen annehmen.“ Und so begegnet man lauter entsubjektivierten, im ewig wiederkehrenden Schicksal der Gattung verschwindenden Existenzen, die ganz in ihren jeweiligen Reflexen und Konditionierungen aufgehen.

Das Problem liegt darin, dass sich Houellebecq mit solchen Bekenntnisse die Lizenz zum literarischen Graubrot selbst erteilt: Wo es keine individualisierten Figuren gibt, da ist auch kein individualisierter Stil möglich. Das Ergebnis ist Standardisierung auf dem Niveau eines schülerhaft ausgemalten 19. Jahrhunderts: nicht schnittiger Flaubert, sondern antiquierter Balzac. Allein die Flut von Inquit-Formeln ist ein Ärgernis: „Fügte er nach ein paar Sekunden hinzu.“ – „Fuhr er fort.“ – „Pflichtete er gutwillig bei.“ – „Wiederholte er schließlich.“ – „Sagte er zusammenfassend.“ – „Rief er fast wütend.“ – „Begann er von Neuem.“ Will Houellebecq nicht anders, oder kann er nicht?

„Karte und Gebiet“ besitzt zweifellos hohen Unterhaltungswert, und wie Houellebecq für Jed Martin ein malerisches Werk erfindet, dessen „Serie der einfachen Berufe“ in einem Doppelporträt von Bill Gates und Steve Jobs gipfelt, hat Schärfe und Brillanz. Das Buch funktioniert als launiger Epilog für erfahrene Houellebecqianer wie als amuse gueule für Novizen. Doch seine Metafiktionalität stammt aus der Mottenkiste, und seine Ironie reicht bei Weitem nicht an den spielerischen Ernst heran, mit dem andere sich in die Spiegelkabinette des Autobiografischen begeben haben.

Man lese nur, wie Alain Robbe-Grillet in „Der wiederkehrende Spiegel“ die Abgründe des Autobiografischen durchquert, in denen sich jedes Ich zwangsläufig verfehlt. Ein spätes Glanzstück des nouveau roman, dessen strikt auf Äußeres gerichtete Objektivierungsstrategien auf einmal mit dem Willen zur Introspektion konkurrieren müssen. Oder man lese, in welche kubistischen Verrenkungen J. M. Coetzee die Fiktionalisierung des Autobiografischen in „Sommer des Lebens“ treibt, einem Roman, in dem er einem Autor namens J. M. Coetzee gleichfalls postmortal auf die Schliche zu kommen versucht und dabei den realen Coetzee überschreibt.

Wenn all diese Projekte eines verbindet, dann die Suche nach der inneren Wahrheit einer Person. Die Figur Houellebecq verkündet, dass es nichts Geheimnisloseres, nichts Banaleres gibt als das Seelenleben eines Menschen. Die Frage ist nur, ob aus der Vermutung, dass sich unsere inneren Wahrheiten stärker ähneln, als es uns lieb sein mag, schon folgt, dass sie wertlos sind. Der wirkliche Michel Houellebecq wird die Antwort darauf wohl mit ins Grab nehmen müssen.

Michel Houellebecq: Karte und Gebiet. Roman. Aus d. Französischen von Uli Wittmann. DuMont, Köln 2011. 416 S., 22,99 €.

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