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Feurige Präzision. Michael Sanderling, 52, am Pult.

© Marco Borggreve

Michael Sanderling dirigiert Konzerthausorchester: Spiegel der Weltpolitik

Blitzende Aufführung: Das Konzerthausorchester spielt unter der Leitung von Michael Sanderling Werke von Schostakowitsch und Britten.

Die Unmittelbarkeit ihrer musikalischen Sprache verbindet Benjamin Britten und Dmitri Schostakowitsch. Zudem treiben beide die Fortschritte der Avantgarde in der Nachkriegszeit gerade nicht voran.

Der Abend mit dem Konzerthausorchester macht bewusst, was Zeitgenossenschaft in der Mitte des 20. Jahrhunderts bedeutet. Der erste britische Komponist von Weltgeltung seit Henry Purcell und der führende Komponist der Sowjetunion haben Werke hinterlassen, in denen sich Geschichte manifestiert. Britten schreibt sein Violinkonzert, als sich in Europa die Vorahnung vom 2. Weltkrieg mit dem deutschen Überfall auf Polen bewahrheitet. Der glühende Pazifist verlässt mit seinem Freund Peter Pears Europa in Richtung Amerika. Der spanische Bürgerkrieg, dessen Beginn er erlebt hat, geht mit dem Fall von Madrid zu Ende, die Faschisten bestimmen die Folgezeit. Spanische Rhythmen spielen eine Rolle in dem Konzert, dessen Uraufführung Brittens Freund Antonio Brosa 1940 in New York bestreitet.

Im Konzerthaus spielt es nun Daniel Hope, und der klagende Charakter des Violinsolos lässt sich selbst heute nicht hören, ohne den Zeitgeist zu fühlen. Hope meistert auch die vertrackte Virtuosität der Musik, ihren Biss im Vivace und die zur Passacaglia überleitende große Kadenz mit eindringlicher Selbstbehauptung. Das bedeutet, dass bei ihm der Ausdruck der Musik, ihre bohrende Intensität über instrumentalem Fetischismus steht. Die Direktheit fasziniert, die Interpretation verfehlt keinen Zuhörer. Und in der Melodik, den eröffnenden Beethoven-Pauken, dem eigenartigen Spaltklang zwischen Oboe und Tuba, dem optimistischen Höhepunkt, der jedoch ins leise Solo mündet, präsentiert sich die Meisterschaft des Orchesters.

Orchester in Bestform

Am Dirigentenpult, das einst von 1960 bis 1977 dem verehrten Kurt Sanderling gehörte, steht diesmal als Gast dessen Sohn Michael. Geboren 1967, hat er als Kind die enge Freundschaft seines Vaters mit Schostakowitsch erlebt. Als Schostakowitsch-Interpret tritt er das Erbe an.

Es gelingt eine blitzende Aufführung der 10. Symphonie, der Antwort des Komponisten auf Stalins Tod. Nach dem unheimlichen Wohlklang der Streicher, der Klage um persönliches Erleiden, aus der Anklage wird, bricht das „Porträt“ Stalins mit grellen Schlägen herein, bis über Trauer und Gewalt das D-Es-C-H-Motiv siegt, das Schostakowitsch-Monogramm. In Dialogen und Soli der Bläser, dem Paukengrollen und den Streicherchören triumphiert das Orchester in Bestform. Michael Sanderling erweist sich als Musiker von feuriger Präzision. Die Schostakowitsch-Tradition des Konzerthausorchesters lebt und zündet.

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