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Selbstportrait Michael Rutschkys vor einem Spiegel

© privat

Michael Rutschkys Tagebücher „Mitgeschrieben“: Die Bosheit der Liebenswürdigen

Michael Rutschkys Tagebücher sind eine Mentalitätsgeschichte der frühen 80er Jahre. In "Mitgeschrieben" schreibt er über seine persönlichen Erfahrungen, etwa als Redakteur beim Transatlantik und dokumentiert zugleich das Geschehen der Zeit.

„Fangen wir irgendwo an“ – mit diesem schönen Satz begann Michael Rutschky 1980 sein Buch „Erfahrungshunger“. Ob er an diesen Satz gedacht hat, als es jetzt um die Edition und Veröffentlichung seiner Tagebücher der Jahre 1981 bis 1984 ging? Diese fangen nämlich gleichfalls irgendwo und einfach so an: Rutschky erzählt von einer Verlagsparty für „Abendroth, den traurigen Cheflayouter“ oder einer Feier in der Staatskanzlei, auf der die bayerischen Zimmerleute dem Ministerpräsidenten einen Ehrenhut überreichen, nun ja. Zumindest fangen sie nicht irgendwann an, sondern im März 1981. Was man hinsichtlich der Jahreszahl aber nur weiß, weil der Berenberg Verlag das Cover auf der Rückseite mit ein paar erklärenden Worten bedacht hat – ein Hoch dieses Mal also auf den Klappentext!

Doch haben es Tagebücher natürlich so an sich, keine umfassenden Einleitungen oder erklärenden Prologe zu enthalten, zumal die eines Michael Rutschkys. Dieser Autor versteht es seit jeher, in seinen Texten, Radiobeiträgen und Büchern Kleines neben Großes zu stellen, aus noch den abseitigsten Alltagsbefunden kleine Welterklärungsmodelle zu basteln oder aus einem Essay eine Erzählung zu machen und umgekehrt.

So mutet „Mitgeschrieben. Die Sensationen des Gewöhnlichen“ zwar etwas unvermittelt an, trotz der beiden Fußnoten auf der ersten Seite, die gerade an dieser Stelle an Kryptik nichts zu wünschen übrig lassen. Aber nach und nach entwickeln sich diese Alltagsminiaturen zu einer schönen Lebens-München- und Achtziger-Jahre-Erzählung, mit all den Banalitäten, Abschweifungen, Plaudereien und poetischen Blitzen, die diese Form mit sich bringt. Schwerpunktmäßig beginnt „Mitgeschrieben“ mit Rutschkys Erfahrungen als Redakteur von „Transatlantik“, dem legendären, von Hans Magnus Enzensberger und Gaston Salvatore konzipierten und geleiteten Kulturmagazin, einer Art deutschsprachigem „New Yorker“.

"Jedenfalls ist Bosheit nicht von Liebenswürdigkeit zu trennen.“

Rutschky fühlt sich dort nicht wirklich wohl, von „Hilflosigkeit“ und „Abwesenheit“, gar von „Angst“ und „Paranoia“ bis hin zu psychosomatischen Beschwerden berichtet er. Als Enzensberger, mit dem er nicht zurechtkommt, sich immer mal wieder nach seinem nächsten Buch erkundigt und ob er, Enzensberger, davon nicht einmal ein Exemplar bekommen könne, eins für die gesamte „Transatlantik“-Redaktion, konstatiert Rutschky:  „R. weiß sofort mit Sicherheit, dass er das unterlassen wird. R. erkennt Bosheit – jedenfalls ist Bosheit nicht von Liebenswürdigkeit zu trennen.“

Der 1943 im hessischen Spangenberg geborene Rutschky ist R., seine 2010 verstorbene Frau Katharina ist Kathrin, seine Mutter M. Zusammen mit vielen anderen, deren voller Name genannt wird, haben sie etwas von literarischen Figuren in einem Buch, das von Rutschkys Alltag und Netzwerken bestimmt wird, auch von seinen Vorlieben und Macken, vom Trinken am Tag, einfach mal so, was für eine Freiheit!, bis hin zu dem Liebäugeln mit dieser oder jener Zigarettenspitze. Ja, doch, eine gewisse Kauzigkeit ist R. zu eigen!

Die Rutschkys, die keine Kinder haben, führen den Hund im Olympiapark aus, verrichten ihre Gruß- und Beobachtungsarbeit an den Liegewiesen der Isar, und Rutschky tauscht sich hier mit Kurt Scheel, Karl Markus Michel oder Rainald Goetz aus, also bekannten Kulturarbeitern. Und erzählt dort etwas von der Juttafamilie, den Bonordens oder den Dürrs, die aus seinem privaten Umfeld stammen und nicht so bekannt sind. Auch das politisch-gesellschaftliche Zeitgeschehen schreibt Rutschky mit, oder besser: Er dokumentiert es. Obwohl er in der einen der zwei Fußnoten sagt, all das „nicht mehr wiederzuerkennen“ oder damit keine „Weltgeschichte“ wiederzugeben, spielt der Regierungswechsel, die „geistig-moralische Wende“ 1982/83 durchaus ihre Rolle. „Und ihr wollt also wirklich Birne als Fußgänger?“, stellt Rutschky sich vor, wie er mit dieser Frage Passanten im Olympiapark konfrontiert. Oder die Wechsel an der Spitze der Sowjetunion von Breschnew über Andropow zu Tschernenko, die Auflösung des Kommunistischen Bunds Westdeutschlands oder der Unfalltod von Marianne Strauß.

Enges Verhältnis zu Rainald Goetz

Schlimmer für ihn ist, dass er gekündigt wird bei „Transatlantik“, wiewohl man darüber nichts Genaueres erfährt, das schimmert in den Einträgen nur durch. Rutschky richtet sich als freier Autor ein, für den „Merkur“, für den Schweizer „Alltag“, für den „Spiegel“, als Buchautor. Wobei „einrichten“ nicht das richtige Wort ist, es ist mehr ein Pendeln zwischen Träumen von der eigenen Größe (Kohl bestellt ein Redemanuskript bei ihm, es soll von Golda Meir handeln, landet aber auf dem Stapel „Wiedervorlage“, oder er und seine Frau werden auf der „Personalien“-Seite des „Spiegels“ groß gefeiert) und der notorischen Freien-Paranoia: „Alle Augenblicke von Erfolgsgewissheit verdankten sich Täuschungen und Selbsttäuschungen. Überhaupt deuten alle Zeichen seit Urzeiten auf Misserfolg – kaum zu glauben, wie lange das ignoriert werden konnte.“

Eine Hauptfigur dieser Tagebücher ist der junge Rainald Goetz, „Mitgeschrieben“ hat da etwas von einer Goetz-in-jungen-Jahren-Biografie. Elf Jahre jünger als Rutschky, wird Goetz von diesem in den Literatur- und Kulturbetrieb eingeführt, mit dem Auftrag für eine Reise durch das deutsche Feuilleton für „Transatlantik“, mit Beiträgen für die von Rutschky herausgegebenen Suhrkamp-Jahrgangsbücher oder mit den Mitschnitten seiner Tätigkeit in der Psychiatrie.

Tagebücher enden mit Herzinfarkt

Goetz geht bei den Rutschkys ein und aus. Er ist eine Art Ziehsohn, so hat es den Anschein. Zum Beispiel wenn Katharina Rutschky gesteht, dass es sie gar nicht stört, wenn er sich schminkt: ,„Bei jedem anderen Mann wäre es mir ekelhaft“. Oder sie einmal ausruft, als Goetz hinten im Auto einschläft: „In Wirklichkeit ist er eben doch noch ein Kind.“ Tatsächlich wird Goetz einmal auch gefragt, ob er der Sohn von Michael Rutschky sei, kommentiert von Frau Rutschky mit den Worten: „Toll, wie die Leute phantasieren. Und immer nach Familienmustern.“

Natürlich kommt auch Goetz’ Klagenfurt-Auftritt zur Sprache, der ihn im Zusammenspiel mit der Veröffentlichung seines Debütromans „Irre“ zu einer prominenten Figur im Literaturbetrieb macht, bis hin zum Georg-Büchner-Preis, den Goetz am 24. Oktober dieses Jahres in Darmstadt verliehen bekommt. Rutschky dagegen erleidet 1984 erst mal einen Herzinfarkt, der ihn auf die Intensivstation und schließlich in eine Reha-Klinik bringt, womit „Mitgeschrieben“ (symbolisch?) endet.

Doch hat man den Eindruck, dass R. in den Einrichtungen des Gesundheitssystems auflebt, führt er doch die Gespräche mit seinen Leidensgenossen in den Krankenzimmern, die er vorher in Restaurants und anderswo immer nur mühsam belauscht hat. Bisweilen fühlt man sich an David Wagners Krankenhausbuch „Leben“ erinnert. Sie haben was Gleichmütiges, diese Einträge am Schluss, sind vom Tonfall nicht anders, fast ruhiger gestimmt, als die zu Beginn, gerade zu „Transatlantik“-Zeiten. Und was ist ein Herzinfarkt schon anderes als eine Alltagssensation? Ob es aber einen weiteren „Mitgeschrieben“-Band gibt, ob Rutschky einmal irgendwo aufgehört hat? Dieser mitunter unterhaltsame Band könnte jedenfalls ein guter Anlass sein, ein größeres Lesepublikum mit ihm bekannt zu machen.

Michael Rutschky: Mitgeschrieben. Die Sensationen des Gewöhnlichen. Berenberg Verlag, Berlin 2015. 430 Seiten, 25 €.

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