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Dirigent Daniele Gatti ist beim Amsterdamer Royal Concertgebouw Orchestra entlassen worden.

© Remko De Waal/dpa

MeToo-Vorwürfe gegen Daniele Gatti: Ist diese Entlassung angemessen?

Danielle Gatti ist der dritte Dirigent von Weltrang, der sich MeToo-Vorwürfen stellen muss. Aber wo verläuft die Grenze zwischen Straftat und unverzeihlichem Benehmen?

Sollen sie weiter dirigieren, musizieren, unterrichten? Darf ein Mann auf keinen Fall weiter Macht ausüben, bevor geklärt ist, ob er seine Macht missbraucht hat und sexuell übergriffig wurde? Die Frage stellt sich spätestens, seit mit dem WDR-Fernsehfilmchef Gebhard Henke ein Mann wegen eher „leichter“ MeToo-Vorwürfe seines Postens enthoben wurde. Freistellen, Feuern, Abmahnen – welches ist das richtige Maß? Oder wird immer noch verharmlost, geschwiegen, wie es über Jahrzehnte üblich war? Wer der Vergewaltigung angeklagt ist, sollte auch vor jedem Richterurteil kein einflussreiches Amt mehr ausüben, klar. Aber auch, wer sein Opfer verbal bedrängte, so unsympathisch bis widerlich das sein mag? Ist Grapschen ein sofortiger Kündigungsgrund? Miese Anmache auch? Und wem wird geglaubt, nur wer mit Klarnamen als Opfer aussagt?

Ich bin seit 25 Jahren berufstätig und das auch in Leitungspositionen, aber warum sollte ich eine Kollegin begrapschen oder verbal bedrängen? Was soll das? Ich möchte auch als Mann nicht mit solchen Kollegen, die dies tun, zusammenarbeiten.

schreibt NutzerIn jeffrowland

Nun prüfen die Berliner Philharmoniker, ob sie weiter mit Daniele Gatti auftreten wollen. „Wir nehmen die Vorwürfe sehr ernst“, heißt es zur fristlosen Entlassung des Amsterdamer Concertgebouw-Chefdirigenten wegen sexuell unangemessenen Verhaltens. 2019 soll Gatti bei den Osterfestspielen in Baden-Baden und auch in Berlin für „Othello“ am Philharmoniker-Pult stehen, bei insgesamt sechs Konzerten. Die geplante Zusammenarbeit mit dem italienischen Maestro „werden wir einer genauen Prüfung unterziehen“, heißt es aus dem Scharoun-Bau.

Europas Konzerthäuser sind in der Spielzeitpause. Die jeweils verantwortlichen Gremien werden sich dennoch umgehend mit Gatti befassen müssen. Auch beim Leipziger Gewandhausorchester, an der Mailänder Scala und in Rom ist er demnächst als Gastdirigent verpflichtet. Beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks steht der 56 -Jährige im Oktober auf dem Programm. Auf Nachfrage betont der zuständige BR-Hörfunkdirektor Martin Wagner ebenfalls, man nehme die Hinweise „sehr ernst“. Die derzeitigen Informationen reichten jedoch nicht aus, um eine Entscheidung über eine künftige Zusammenarbeit zu treffen. „Wir bemühen uns deshalb um Informationen, die über die Medienberichte hinausgehen“, so Wagner.

Bei Gatti geht es um Übergriffe, die 1996 und 2000 stattgefunden haben sollen

In einer detailliert recherchierten, am 26. Juli erschienenen Reportage der „Washington Post“ über MeToo in der Klassikwelt hatten die Sängerinnen Alicia Berneche und Jeanne-Michèle Charbonnet von Übergriffen seitens Gatti berichtet, in den Jahren 1996 und 2000. Weitere sehr konkrete MeToo-Anschuldigungen betreffen den Konzertmeister des Cleveland Orchestra William Preucil, den Konzertagenten Bernard Uzan, den Dirigenten Daniel Lipton und den Chef der Florentine Opera in Milwaukee, William Florescu. Es geht um körperliches Bedrängen, um versuchte sexuelle Erpressung. Das Muster ist das Gleiche wie in der Filmwelt: Junge Musiker und Sängerinnen sollen Managern oder Künstlern zu Diensten sein, die ihre Karriere befördern können. Die Orte: Hotelzimmer, Künstlergarderoben, fensterlose Probenräume. Alle Genannten wurden ihrer Posten entbunden oder traten zurück, wie vor wenigen Tagen auch der Leiter der Festspiele Erl, Gustav Kuhn.

Seit dem Weinstein-Skandal zu Beginn der MeToo-Debatte ist Gatti nach James Levine und Charles Dutoit der dritte beschuldigte Dirigent von Weltrang. Anders als die massiven Vorwürfe gegen Levine, der unter anderem einen Minderjährigen missbraucht haben soll – wobei die Metropolitan Opera und der 75-Jährige sich inzwischen gegenseitig verklagen –, geht es bei Gatti um erzwungene Küsse und versuchte Übergriffe, um das Schweigen der anderen danach. Nochmals, wo verläuft die Grenze zwischen Straftat, unverzeihlichem Benehmen und schweren Fehlern, für die man um Verzeihung bitten kann?

Gatti hatte sich zunächst entschuldigt. Jetzt weist er alles zurück, nennt es Hetzkampagne, beschäftigt die Agentur „The Reputation Doctor“. Er sei „extrem überrascht“, teilte sein Anwalt mit. Der Dirigent erwägt juristische Schritte. Macht ihn das glaubwürdiger? Oder die Sopranistinnen?

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