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Nicht nur weiße, westliche Männer wirkten vor 70 Jahren in New York an der universellen Erklärung der Menschenrechte mit, sondern auch viele Frauen. Auf dem Bild zu sehen sind fünf von ihnen (v. l. n. r.): Die Libanesin Angela Jurdak, Fryderyka Kalinowski aus Polen, die Dänin Bodgil Begtrup, Minerva Bernardino aus der Dominikanischen Republik und die Inderin Hansa Mehta.

© UN Photo

Menschenrechte und Ideologie: Sabotage der Aufklärung

Raubkunst, Postkolonialismus, Gendertheorie: 70 Jahre nach der Erklärung der Menschenrechte braucht es nicht noch mehr ideologische Dekonstruktion. Eine Analyse.

Von Caroline Fetscher

Europäische Museen, klagt die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy, „besitzen fast alles, afrikanische Museen fast nichts“. Mit solchen Aussagen empfiehlt die Professorin, die Frankreichs Regierung berät, die Restitution von Objekten aus der Kolonialepoche. Vielerorts ist sie in Planung, teils schon geschehen. Keineswegs, ergänzt Savoy, solle jeder Gegenstand den Platz wechseln. Vielmehr gehe es um eine geografische Balance von Kulturerbe, die derzeit „extrem unausgeglichen“ sei.

Kann eine Forderung gerechter klingen? Debattiert werden solche Ansprüche weltweit, nicht zuletzt in Berlin angesichts der Provenienzfragen, die um das entstehende Humboldt Forum kreisen. Wem gehören Objekte, die in der Ära der europäischen Forschungsreisen und des Kolonialismus aus dem Süden in den Norden geschafft wurden? Wege sollen für gemeinsame Ausstellungen gebahnt werden, für Vernetzung und Austausch.

Marie-Emmanuelle Pommerolle, Afrikanistin an der Universität Panthéon-Sorbonne, sieht in dem französischen Projekt die Entschlossenheit Emmanuel Macrons, eine neue Generation zu repräsentieren, „die keine Verbindung mehr zur Kolonialepoche aufweist“. Hierzu müsse es, mahnt die Wissenschaftlerin, einen Diskurs unter Kunstexperten und Akademikern geben, ansonsten drohe „eine Politisierung der Restitution“.

Doch die ist längst da. So gelten etwa, auch in diesem Kontext, kritische Fragen zu Korruptions-Indizes außereuropäischer Staaten oder deren prekärer Menschenrechtslage in den postcolonial studies häufig als „westliche Anmaßung“. Auch das Ablehnen traumatisierender Praktiken wie der weiblichen Genitalverstümmelung oder körperlicher Züchtigung kann dort als Ausweis okzidentaler rassistischer Überheblichkeit gegenüber „traditionellen Kulturpraktiken“ eingestuft werden, die zur schützenswerten Identität einer Gruppe gehören.

Wer derlei Praktiken infrage stellt und sich dabei auf die Aufklärung und universelle Menschenrechte beruft, behaupte – mit Begriffspaaren wie zivilisiert und unzivilisiert, schwarz und weiß – kulturelle Suprematie gegenüber jenen, die ein traditionell anderes Verhältnis zu Körperlichkeit, Geschlecht oder Gruppenstrukturen aufweisen. So wird argumentiert. Auch die retroaktive Idealisierung präkolonialer Verhältnisse wirft Fragen auf.

Wie kommt es zu Begriffen wie "Menschenrechtsimperialismus"?

Wie aber sollen solche kulturrelativistischen Positionen Menschen erklärt werden, die in autoritären, feudalen Systemen Verfolgung und Folter erfahren, weil sie für Demokratisierung streiten, etwa der Blogger Raif Badawi oder die inhaftierten Feministinnen in Saudi-Arabien?

Die aus den USA eingetroffene UN-Flagge wird im August 1948 in Paris entrollt, kurz vor der dritten UN-Generalversammlung. Am 10. Dezember wurde dort die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verkündet.
Die aus den USA eingetroffene UN-Flagge wird im August 1948 in Paris entrollt, kurz vor der dritten UN-Generalversammlung. Am 10. Dezember wurde dort die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verkündet.

© AFP

Und wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass ein einflussreicher Teil der aktuellen akademischen Avantgarde in postkolonialen Debatten von „Menschenrechtsimperialismus“ spricht? Hört sich das nicht strukturell ähnlich an wie erzkonservative, rechte Argumente, denen zufolge genauso pauschal die Araber nunmal eine andere Tradition besäßen und daher ungeeignet für Säkularismus und Aufklärung seien? Oder die Chinesen eine zur Demokratie untaugliche Mentalität haben?

Mit den "postcolonial studies" und den "gender studies" entstanden neue Disziplinen

Wichtige, richtige Anliegen wie das der Provenienzforschung bei außereuropäischen Objekten verdanken sich im Kern der jüngeren Öffnung der Geisteswissenschaften für koloniale Geschichte und deren Kontexte. Dabei sind großartige historische, ethnologische, kunsthistorische und andere Studien entstanden, etwa David van Reybroucks monumentales Werk zu den verdrängten Gräueln der belgischen Kolonialherrschaft im Kongo. Wegweisend waren auch Texte wie die von James Clifford, darunter seine Biografie des Missionars Maurice Leenhardt in Melanesien, der zum Ethnologen mutierte und Claude Lévi-Strauss inspirierte, den Strukturalisten der ersten Stunde.

Inzwischen sind mit den postcolonial studies oder den gender studies neue Disziplinen entstanden, beeinflusst von Verfahren der Dekonstruktion, wie der französische Philosoph Jacques Derrida seine Methode nannte, die Binnenstrukturen von Texten und Symbolsystemen analytisch aufzulösen. Das scheinbar Gegebene wurde konstruiert, also lässt es sich auch dekonstruieren, auseinandernehmen, enttarnen und völlig neu erkennen.

An den Universitäten faszinierten solche Ansätze schon in den 70er, 80er Jahren. Verborgene Grammatiken der Macht wurden sichtbar, als würden Negative im Entwickler eines Fotolabors gebadet, um tiefere Bedeutung ans Licht zu zwingen. So viel mehr war zu entdecken als beim rationalistischen Beharren auf Faktizität oder bei der materialistischen Kritik an den Verhältnissen.

Carlos Castanedas Bestseller über heilige Drogen in Mexiko wurden verschlungen und der „Papalagi“ von 1920 wiederentdeckt, dessen fiktive „Reden des Südseehäuptlings Tuiavii aus Tiavea“ vor den Europäern warnte, welche das Geld als Gott anbeteten. Mystik und Zauber leuchteten auf, wenn es um außereuropäische Rituale ging, um mittelalterliche Alchemie oder um kräuterheilkundige, als Hexen verfolgte Frauen, die in feministischen Seminaren beliebt waren.

Die Gefahr: Aufklärung und Menschenrechte werden als Wertekatalog des weißen Mannes denunziert

Nicht nur weiße, westliche Männer wirkten vor 70 Jahren in New York an der universellen Erklärung der Menschenrechte mit, sondern auch viele Frauen. Auf dem Bild zu sehen sind fünf von ihnen (v. l. n. r.): Die Libanesin Angela Jurdak, Fryderyka Kalinowski aus Polen, die Dänin Bodgil Begtrup, Minerva Bernardino aus der Dominikanischen Republik und die Inderin Hansa Mehta.
Nicht nur weiße, westliche Männer wirkten vor 70 Jahren in New York an der universellen Erklärung der Menschenrechte mit, sondern auch viele Frauen. Auf dem Bild zu sehen sind fünf von ihnen (v. l. n. r.): Die Libanesin Angela Jurdak, Fryderyka Kalinowski aus Polen, die Dänin Bodgil Begtrup, Minerva Bernardino aus der Dominikanischen Republik und die Inderin Hansa Mehta.

© UN Photo

Was hatte die westliche Wissenschaft alles ausgeblendet oder pathologisiert! Das andere, die anderen: Frauen, Schwarze, Lesben, Schwule, nichteuropäische Kulturen, Religionen, das Irrationale. Nicht nur privat kam Esoterik, New Age in Mode. Schleichend verabschiedete sich auch ein Teil der Forschung von Faktizität und Kritischer Theorie. Begriffe wurden üblich wie „Wissensproduktion“, bei der von der Gleichrangigkeit symbolischer Systeme ausgegangen wird, mit der ethnische, religiöse oder andere Gruppen ihre Identität konstruieren.

So wären auch Horoskope Produktion von Wissen, und selbst der Irrsinn der Reichsbürger dürfte legitim nach Würdigung rufen. Dass und wie die „identity politics“ der Linken die wachsenden identitären Bewegungen der Rechten inspiriert hat, darauf weist Francis Fukuyama in seinem neuen Buch „Identity“ hin, das im Februar 2019 auf Deutsch erscheint. Es ist eine Warnung vor fragmentierten, entpolitisierten Gesellschaften, die sich von der Demokratie entfernen.

Indes scheint das Dekonstruieren an einen Kipppunkt gelangt zu sein, denn in dem ideologischen Cocktail, der die Aufklärung zu überschwemmen droht, wimmelt es von Widersprüchen. Wenn Aufklärung, Rechtsstaat, Menschenrechte, Fortschritt als anmaßender Wertekatalog weißer, rationalistischer, machistischer und patriarchaler Männer denunziert werden, bleibt kein Fundament für soziales Handeln. Auch Karl Marx war übrigens ein weißer Mann. Die Geschichte, hatte er erkannt, ist eine der Klassenkämpfe.

Prominente begeben sich empathielos in Opferkonkurrenz zu den Juden

Mit Imperialismen und Kolonialismen, vom römischen über das osmanische Reich bis zum British Empire und so fort, expandierte die Machtlogik der Klassenkämpfe aus dem Inneren der Gesellschaften in den interkontinentalen Raum. Während die eine Arbeiterschaft in Manchester an Webstühlen und in Bergwerken schuftete, wurde die andere auf den Territorien in Übersee geschunden. Die Schoah hatte, als Kulminationspunkt aller kolonialen Strukturen, Europas Juden als „Rasse“ stigmatisiert, zu Arbeitssklaven gemacht und in Mordfabriken vernichtet.

Die UN-Charta der Menschenrechte, ausgerufen vor 70 Jahren am 10. Dezember 1948, war die internationale Reaktion auf die Schoah, auf den unvorstellbaren europäischen Zivilisationsbruch. Mitgearbeitet an der Charta hatten keineswegs nur weiße Männer, sondern auch Frauen aus Indien, Pakistan, dem Libanon, Europa und Asien.

Die aus den USA eingetroffene UN-Flagge wird im August 1948 in Paris entrollt, kurz vor der dritten UN-Generalversammlung. Am 10. Dezember wurde dort die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verkündet.
Die aus den USA eingetroffene UN-Flagge wird im August 1948 in Paris entrollt, kurz vor der dritten UN-Generalversammlung. Am 10. Dezember wurde dort die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verkündet.

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Diese Kontexte passen den antiwestlichen Theorien schlecht ins Konzept. Schockierend empathielos begeben sich vielmehr einige Prominente nachgerade in Opferkonkurrenz zu überlebenden Juden und deren Nachkommen. Insbesondere die Ikone der postcolonial studies, Gayatri Chakravorty Spivak, sieht eine heutige „Version des territorialen Imperialismus und Staatsterrorismus alter Prägung“ vor allem „in Palästina“ und zeigt Verständnis für Terrorismus. Sie fordert, ebenso wie die ikonische Feministin Judith Butler in Berkeley, den akademischen Boykott israelischer Künstler und Wissenschaftler – im Bund mit der antiisraelischen, teils offen antisemitischen Kampagne „Boycott, Divestment, Sanction“ (BDS).

Immerhin rücken allmählich jüngere Forschende die Dinge zurecht, etwa der Tübinger Politologe Floris Biskamp mit seiner Studie „Orientalismus und demokratische Öffentlichkeit. Antimuslimischer Rassismus aus Sicht postkolonialer und neuerer, kritischer Theorie“. Biskamp analysiert das Entstehen der postkolonialen Diskurse von Autoren wie Spivak, Edward Said oder Homi Bhabha, deren gerechtfertigte Anliegen ebenso wie deren Irrwege und Kurzschlüsse. Er hängt helle Laternen an die Bäume im Wald der Widersprüche und beleuchtet damit auch Thesen, die teils „frei von jeder rationalen Basis sind“. Solche Köpfe braucht die strauchelnde Demokratie. Ihre Worte sind eine Wohltat.

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