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Der wegen Körperverletzung angeklagte Youtuber Rainer W. vor Gericht.

© Daniel Karmann/dpa

Menschenfeinde aus dem Netz: Die Berufung im Fall „Drachenlord“ geht uns alle an

Nicht Rainer W. hätte auf der Anklagebank sitzen dürfen, sondern eine Gesellschaft, in deren Mitte kollektiver Menschenhass keimt. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Hannes Soltau

Das Aufatmen war beinahe zu hören. Die deutsche Medienlandschaft schien in der vergangenen Woche erleichtert darüber zu sein, dass die grausame Geschichte um den „Drachenlord“ endlich ein Ende finden könnte. Das Amtsgericht Neustadt an der Aisch hatte den Webvideoproduzenten Rainer W. zu zwei Jahren Haft ohne Bewährung verurteilt.

Doch nun scheint ein weiteres Kapitel geschrieben zu werden, an dem sich auch entscheidet, ob unsere Gesellschaft noch einen Rest an Humanität bewahrt hat. Die Verteidigung legte Berufung gegen seine Verurteilung ein. Ebenso wie die Staatsanwaltschaft, die allerdings eine höhere Freiheitsstrafe anstrebt.

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Der juristische Schuldvorwurf im Fall Rainer W.: Der 32-Jährige hat einem Mann mit der Taschenlampe auf die Stirn geschlagen, mit Backsteinen um sich geschmissen und Polizisten beleidigt. Doch der eigentliche Vorwurf, den ihm Abertausende Hater im Netz seit Jahren machen: Er ist anders.

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Ein Außenseiter, ein ehemaliger Sonderschüler mit einer Lese-Rechtschreibschwäche, der sein Geld mit dem Hochladen von Webvideos verdient. Bekennender Metalfan mit Übergewicht. Einer, der in seinen Youtube-Videos über Sex mit Tieren fabuliert. Der auch provoziert und beleidigt.

Über Jahre entstand in einer perversen Parallelwelt im Netz das sogenannte „Drachengame“. Einziges Ziel des Spiels: organisierten und kollektiven Psychoterror gegen einen Wehrlosen zu entfalten. Wiederholt zogen Mobs von hunderten jungen Männern vor das Haus von Rainer W., er erhielt unzählige Morddrohungen, das Grab seines Vaters wurde geschändet.

Folter, Terror, Qualen

Tausende Zuschauer seiner Live-Videoübertragung werden Zeuge, wie er der zugeschalteten Userin „Erdbeerchen“ einen Heiratsantrag macht. Sie antwortet: „Du bist der fetteste, dümmste Idiot, den ich je in meinem Leben gesehen habe.“

Junge Männer springen ins Bild. Sie feixen, johlen. Über Wochen haben sie diesen Coup vorbereitet. Rainer W. sackt in sich zusammen. Mit leerem Blick sitzt er da, Tränen in den Augen. Später wird er sagen: „Jeder Mensch hätte sich danach aus dem Fenster geschleudert“.

Wie viele Täter es sind, ist kaum überschaubar. Glaubt man den Klickzahlen auf Videoplattformen, geht aber die Zahl derjenigen, die über die Demütigungen lachen, in die Hundertausende. Sie alle beteiligen sich daran, einem Hilflosen die Macht der kollektiven Überlegenheit zu demonstrieren. Zu foltern, zu terrorisieren, zu quälen. Einen Menschen maximal zu demütigen. Ihn zu zerbrechen. Ihn irgendwann in den Suizid zu treiben, wie viele Hater unverblümt zugeben.

Wenn Aggressionen auf Individuen und Gruppen gerichtet werden, die unbeliebt oder machtlos sind, befriedigt das meist eigene psychologische Grundbedürfnisse: Kontrolle, Zugehörigkeit und Lustgewinn. Vor allem in Zeiten, in denen gesellschaftliche Verunsicherung ein labiles Selbstwertgefühl bedrohen, kann der Hass den Einzelnen vorübergehend stabilisieren.

Die Geschichte hat hinlänglich bewiesen, wohin solche Mechanismen führen können. Der Weg zu faschistischen Einstellungen und Verhaltensweisen ist nicht mehr weit.

In der Berufung im Fall „Drachenlord“ gehören darum nicht nur die Menschenfeinde aus dem Netz auf die Anklagebank. Diese Berufung ist eine Chance, zu klären, wie solch besorgniserregende Formen der Unmenschlichkeit in einer modernen Gesellschaft möglich sind, was sie politisch und gesellschaftlich begünstigt. Eine Chance für uns alle, zu ergründen, warum der Menschenhass in unserer Mitte keimt.

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