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Toleranz und Gleichberechtigung. Johann Christoph Frischs Porträt von Moses Mendelssohn, Berlin 1783.

© Roman März/Jüdisches Museum

Mendelssohn-Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin: Popstar der Philosophie

„Wir träumten von nichts als Aufklärung“: Das Jüdische Museum würdigt den Denker Moses Mendelssohn. Nach Berlin kam er einst zu Fuß.

Hufe klackern auf den Pflastersteinen, Kutschen rattern, es raschelt, Stimmen reden durcheinander. Was sie sagen, kann man nicht ausmachen, doch darauf kommt es nicht an. Diese Ausstellung will auch mit dem Hörsinn darauf einstimmen, was das für eine Stadt gewesen sein muss, die Moses Mendelssohn 1743 von Süden durchs Hallesche Tor betreten hat – nur auf den Geruch von Pferdemist hat man wohlweislich verzichtet.

Mendelssohn war 14 und der Legende nach fünf Tage von Dessau aus gelaufen, um in Berlin die Talmudschule von David Fränkel zu besuchen. Dazu gehört einiges an Entschlossenheit. Wer so etwas auf sich nimmt, halb Kind noch, bei dem überrascht es nicht, dass aus ihm einer der bedeutendsten jüdischen Gelehrten seiner Zeit werden sollte, leidenschaftlicher Diskutierer, Übersetzer und Stammvater einer prominenten Familie.

„Wir träumten von nichts als Aufklärung“ heißt die neue, von Inka Bertz und Thomas Lackmann kuratierte Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin. Das Zitat stammt aus einem Brief Mendelssohns von 1784. Man hat das Gefühl, es war längst Zeit für für diese Ausstellung, zumal an diesem Ort, der so gut zum Thema passt.

Nicht nur trägt der Platz gegenüber vom Museum, vor der früheren Blumengroßmarkthalle, seit einigen Jahren den Namen von Mendelssohn und seiner Gattin Fromet – weil in Kreuzberg neue Straßen und Plätze nur nach Frauen benannt werden dürfen. Auch das Hallesche Tor, wo einst sein neues Leben begann, liegt nur wenige Gehminuten entfernt, genauso der Friedhof am Mehringdamm, wo die Enkelkinder Felix Mendelssohn Bartholdy und Fanny Hensel bestattet sind.

Mendelssohn Brille und Handschriften

Erstaunlich, wie viele physische Spuren sich von Mendelssohns Leben erhalten haben. Die Ausstellung arbeitet neben Objekten (Mendelssohns Lesebrille war auch schon im Jubiläumsjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ präsentiert worden) mit Handschriften, etwa einem Gästebucheintrag Mendelssohns in der Wolfenbütteler Bibliothek, mit Gemälden und historischen Fotografien, zum Beispiel des Geburtshauses in Dessau um 1900. Ein an die Wand projizierter zeitgenössischer Stadtplan macht sichtbar, wie Berlin 1743 aussah.

Seit drei Jahren herrscht Friedrich II., die unter seinem Großvater begonnen Stadterweiterungen erstrecken sich bis zum Brandenburger und Halleschen Tor, die mittelalterliche Kernstadt ist noch festungsbewehrt. Dort, in der Spandauer Straße 68, sollte das Ehepaar Mendelssohn später wohnen. Haus, Straße und Viertel existieren nicht mehr, heute gähnt dort eine von neckischen Springbrunnen aufgehübschte Leerfläche, über die der Fernsehturm wacht und die einige für „urban“ halten.

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Mendelssohn studiert den Talmud, arbeitet als Hauslehrer und Buchhalter in der Seidenfabrik von Bernhard Isaak – und lernt, angeblich beim Schachspiel, Gotthold Ephraim Lessing kennen, der seine erste Schrift auf Deutsch, die „Philosophischen Gespräche“ publizieren wird. Lessing und der Verleger und Kritiker Friedrich Nicolai, deren Porträts in der Ausstellung hängen, werden zu den wichtigsten Lebensfreunde Mendelssohns, sie gehören einer Generation an. Es ist die aufregende Zeit der – erst viel später so genannten – „Berliner Aufklärung“. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse und eine viel schnellere Verbreitung von Ideen bringen das traditionelle Weltbild ins Wanken.

Mendelssohn argumentiert, dass die Werte von Toleranz und Gleichberechtigung selbstverständlich auch für Juden gelten würden – die so genannte Haskala. Es verwundert ein wenig, dass dieser wichtige Begriff in der Ausstellung nur am Rande erwähnt wird, auch wenn das Thema Aufklärung selbst breiten Raum einnimmt.

Aktualisierung mit der Brechstange

Das Kuratorenteam hat viel Mühe darauf verwendet, die Aktualität und Relevanz von Mendelssohns Zeit für uns heute zu beweisen – unter anderem durch ausführliche Verwendung von Begriffen und Formulierungen, die eindeutig ins Jahr 2022 gehören: „Netzwerke“, „Lieferketten“, „Informationsflut“, „Fake News“, „in seiner Blase leben“, „mit Andersdenkenden reden“. Man versteht die Notwendigkeit, eine Figur wie Mendelssohn für ein breites Publikum interessant zu machen.

Und doch wirkt das teilweise so sehr mit der Brechstange herbeigezwungen, dass die spezifischen und eben nicht aufs Heute verweisenden Charakteristika einer Epoche wie des 18. Jahrhunderts zu verblassen drohen und zum bloßen Präludium der Gegenwart degradiert werden.

[bis 11. September, begleitende Diskussionsveranstaltungen am 24.5. und 5.7. widmen sich Fragen von Macht, Staat, Religion, Medienrevolution und Bilderflut, www.jmberlin.de]

Mendelssohn musste sich in seinem Leben mit vielen Unsäglichkeiten auseinandersetzen, was ihn auch krank gemacht hat, ein Problem mit der Wirbelsäule hatte er seit Geburt sowieso. Ein Gemälde von Moritz Daniel Oppenheim versucht, das auf den Punkt zu bringen. Es zeigt eine Begegnung, die so direkt nie stattgefunden hat, sich aber als Debatte über Jahre hinzog.

Der Schweizer Theologe Johann Caspar Lavater war der festen Überzeugung, dass die Juden sich erst zu Christus bekennen müssten, bevor dieser wiederkehren könne. In dem (erst hundert Jahre später entstandenen) Gemälde sitzt Lavater mit Mendelssohn am Tisch und zeigt auf ein Buch, mutmaßlich die Tora, das Bein hat er invasiv nach vorne gestreckt, während sich Mendelssohn in abwartender Haltung nachdenklich am Kinn reibt. Lessing wacht über allem, greift aber nicht ein.

Kunsttheorie und Ideengeschichte

Über ein kunsttheoretisches Kapitel und eines, das den vielen Porträts von Moses Mendelssohn als frühem „Popstar“ der Philosophie gewidmet ist (das berühmteste, emblematisch gewordene stammt von Johann Christoph Frisch) kommt die Ausstellung zu einem dann doch überraschend schnellen Ende.

Ein Hinweis auf die Grabstätte an der Großen Hamburger Straße fehlt, dafür ist die originale Gedenktafel zu besichtigen, die 1829 über der Tür des Wohnhauses in der Spandauer Straße angebracht worden war. Eine Kopie dieser Tafel hat der Künstler Micha Ullman für sein Bodendenkmal dort verwendet, es wurde 2016 eingeweiht, zu Füßen des Fernsehturms.

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