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Kultur: Meine Tarnung ist die deutsche Sprache

Der Dichter als Überlebender: Sander L. Gilman stellt in der American Academy seine Biografie von Jurek Becker vor

Erzählen ist Leben und manchmal sogar Überleben. Wer erzählt, sichert das Leben der Anderen und versichert sich seiner selbst. Ob Jakob, der Lügner im polnischen Ghetto erfundene Nachrichten verbreitet und bei den Ghettobewohnern überlebenswichtige Hoffnung erzeugt oder der kleine Jurek, eben dem KZ entronnen und des Deutschen kaum mächtig, seinem Vater Max Geschichten erzählt, um die Aufmerksamkeit des Trinkers und Frauenhelden auf sich zu lenken: Immer geht es ums Überleben. Vielleicht war es gerade das stets vorenthaltene väterliche Lob, das das Erzähltalent des späteren Autors Jurek Becker forcierte.

Die Begeisterung, Geschichten zu erzählen, teilt der vor fünf Jahren früh verstorbene Autor mit seinem ersten Biografen, dem amerikanischen Kulturwissenschaftler Sander L. Gilman. Die intime Runde in der Berliner American Academy, deren Fellow Gilman war, bieten den idealen Rahmen einer Annäherung an Becker, dem es gelang, nicht nur die Literaturkritik zu überzeugen, sondern mit der Kultserie „Liebling Kreuzberg“ auch das Fernsehpublikum zu erreichen – und der dabei bis zuletzt überzeugter Sozialist blieb. Zusammen mit Havemann ein Fähnlein der zwei Aufrechten, wie Gilman lakonisch postuliert.

Dass dem sechs Jahre jüngeren Gilman Ghetto und KZ erspart blieben, mag einer der Gründe gewesen sein, sich dem langjährigen Freund biografisch anzunähern. Monate der Identifikation seien dem Schreiben vorausgegangen und ein schmerzhaftes Abtauchen ins kollektive Bildgedächtnis, bis er den Stoff habe bearbeiten können. Anders als bei seinen Brecht-Recherchen, wo Gilman zuerst den Umgang mit Geheimdienstakten lernte, sei Becker ihm persönlich nah gewesen und doch fremd geblieben. Denn dessen Geschichte und Geschichten sind unlösbar mit der DDR verknüpft, gerade wo der nationalsozialistische Horizont aufscheint.

Der andere, für den „Stereotypen“-Forscher Gilman zweifellos wichtigere Grund war die Herausforderung, über einen Autor zu schreiben, der aus Polen stammte, jüdischer Abstammung war, sich aber niemals als jüdischer Schriftsteller verstand – und seine Geschichten dennoch aus jüdischen Quellen schöpfte. Wer er sei, so gab Becker wiederholt zu Protokoll, bestimme er selbst. Und er war ein zutiefst „deutscher“ Schriftsteller in dem Sinne, dass er frühzeitig lernte, wie Sprache schützt: In der Schule probte er die Anpassung bis zum Exzess, später war das „Sprachkleid“ (Gilman) Tarnung vor der Zensur, überstand den Systemwechsel und blieb dabei „gewebeleicht“ und „reißfest“.

Ein polnischer Jude? Ein deutscher Schriftsteller jüdischen Ursprungs? „Opfer des Naziregimes“? Oder ein Überlebender der Shoah, der sich Zeit seines Lebens mit der Schuld, überlebt zu haben, quälte? In Beckers Fall sogar konkret, weil er sein Überleben der Mutter verdankte, die ihm im KZ ihre Lebensmittel überließ und an Unterernährung starb. Die „frei flottierenden Identitäten“ haben Becker zum „Grenzgänger“ gemacht. So abgenutzt das Bild sein mag, mit dem der Literaturwissenschaftler Klaus Scherpe Gilman sekundiert, in Beckers Fall ist es eine weitere Dimension, die sich erst nach der Wende offenbarte.

Denn dass der seit 1977 mit Dauervisum in West-Berlin lebende Schriftsteller seine sozialistischen Überzeugungen nicht über Bord geworfen hat und den „Runden Tischen“ der Intelligenz dennoch reserviert begegnete, zeugt von innerer Distanz und realistischer Einschätzung. Als Unterhaltungsminister in einem „Dichterkabinett“ zu dilettieren, konnte sich Jurek Becker wohl schlecht vorstellen. Und obwohl er immer für eine „bessere“ DDR optiert hatte, hinterließ er in seiner letzten Fernsehserie „Wir sind auch nur ein Volk“ seinen Landsleuten ein ziemlich böses Konterfei. Ob es „das Bild“ der Ostdeutschen wiedergibt, so wie Gilmans Buch „die Biografie“ heißt, ist dabei gar nicht die Frage. Authentizität misst sich nicht an der Wahrheit des Augenzeugen, sondern an der Imagination des Erzählers, über deren Gültigkeit der Leser entscheidet.

Sander L. Gilman: Jurek Becker. Die Biografie. A.d. Amerikanischen von Michael Schmidt. Ullstein, München 2002. 336 S., 22 €

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