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Sie leistet als Medea Übermenschliches: Nicole Chevalier

© Monika Ritterhaus

„Medea“ an der Komischen Oper: Entsetzliche, wo gehst du hin?

Musiktheater, das wehtun soll: Benedict Andrews inszeniert Aribert Reimanns „Medea“ an der Komischen Oper – mit der grandiosen Nicole Chevalier in der Titelrolle.

Mit dem Goldenen Vlies verhält es sich ähnlich wie mit dem Ring des Nibelungen: Es bringt jedem Unglück, der es besitzt – und der Fluch kann nur gelöst werden, wenn das Kleinod dorthin zurückgebracht wird, wo es gestohlen wurde. In Richard Wagners Opern-Tetralogie ist es Brünnhilde, die angesichts der Götterdämmerung das Gold zurück in den Rhein wirft, in dem dreiteiligen Drama, das der österreichische Dichter Franz Grillparzer 1819 nach der griechischen Mythologie schuf, entschließt sich Medea, das Goldene Vlies nach Delphi zu bringen, wo es ursprünglich im Tempel aufbewahrt wurde.

Zwei starke Frauen, die zu Opfern einer Männerwelt werden, in der für Macht gemordet wird. Kein Wunder, dass Aribert Reimann sich von Franz Grillparzers Version der antiken Geschichte faszinieren ließ, als er sich auf die Suche nach einer geeigneten Vorlage für seine „Medea“-Oper machte. Viel Sprachmelodie findet sich bereits in den Worten des romantischen Schauspiels, außerdem bietet das Stück jene Anknüpfungspunkte zur Gegenwart, die dem Komponisten bei seinen Literaturopern so wichtig sind.

Medea nämlich wird nicht nur als Frau erniedrigt, weil ihr Geliebter Jason eine andere heiratet, sie erleidet auch noch ein grausames Flüchtlingsschicksal. In ihrer Heimat Kolchis am Schwarzen Meer hat sie Jason dabei geholfen, das Goldene Vlies zu stehlen, und wurde darum verstoßen. Aus seiner griechischen Heimat Jolkos wiederum wird das Paar vertrieben, nachdem König Pelias, Jasons Onkel, auf ungeklärte Weise ums Leben gekommen ist. Letzte Hoffnung für das Paar, das zwei kleine Kinder hat, ist nun Korinth: Doch auch dort schlägt der fremden Frau aus dem Barbarenland Misstrauen entgegen. Korinths Herrscher Kreon will nur Jason Asyl gewähren – unter der Bedingung, dass er Medea abschwört und seine Tochter Kreusa heiratet.

Kein Gesang, nur gezackte, hartkantige Linien

Für die Berliner Erstaufführung von Reimanns 2010 in Wien uraufgeführter „Medea“ hat Johannes Schütz die Bühne der Komischen Oper mit Rindenmulch geflutet. Knöcheltief waten die Darsteller durch die schwarzbraunen Späne, eine kalte Sonne wirft ihr Licht auf die bedrückende Szenerie, im Hintergrund sind die nackten Mauern des Hauses zu sehen. An diesem Unort ohne jede Vegetation, abweisend und lebensfeindlich, will Medea dennoch ihre Odyssee beenden und versucht darum verzweifelt, für sich und ihre Familie eine Existenz aufzubauen. Ein paar Bindfäden, zur Silhouette eine Hauses gespannt, sollen Obdach bieten, mit Salz versucht sie – wie ein Bauer, der Samen ausstreut –, ihren Schutzraum zu markieren.

Ein starkes Bild für dieses Musiktheater, das Zumutung sein will. Das keinen Gesang kennt, sondern nur die gezackten, hartkantigen Linien einer pathetischen Deklamation, die sich dauerhaft am Rande der Hysterie bewegt. Ein Musiktheater, bei dem es keine psychologische Hinführung des Hörers zur Katastrophe gibt, weil alle Figuren bereits außer sich sind, wenn der erste Ton erklingt. Selbst das Orchester weigert sich, seiner üblichen Begleitungsfunktion nachzukommen, die Sänger klanglich zu tragen, das Geschehen atmosphärisch zu untermalen, Kernaussagen zu verstärken, Lügen im Libretto zu entlarven.

Mörderisches Spiel. Medea (Nicole Chevalier, vorn) ist außer sich, weil Jason (Günter Papendell) sie für eine andere Frau verlassen will. Rechts Nadine Weissmann als Amme.
Mörderisches Spiel. Medea (Nicole Chevalier, vorn) ist außer sich, weil Jason (Günter Papendell) sie für eine andere Frau verlassen will. Rechts Nadine Weissmann als Amme.

© Monika Rittershaus

Mit beeindruckender Souveränität nimmt das Orchester der Komischen Oper die Herausforderungen der Partitur an. Dieses Furioso aus beständigen Rhythmus- und Tempowechseln, das im Akustischen unausgesetzt für verwirrende Hell-Dunkel-Kontraste sorgt, während auf der Szene immer nur diese eine trübgraue Lichtstimmung herrscht. Grandios auch, wie Dirigent Steven Sloane die Kommunikation mit den Solisten koordiniert, das auf den ersten Höreindruck scheinbar Unvereinbare zusammenzwingt, zwei volle Stunden lang.

In der Titelrolle leistet Nicole Chevalier Übermenschliches. Denn sie kann sich keinen Augenblick lang verstecken, ist unausgesetzt im Fokus der Aufmerksamkeit ihrer Mitspieler wie der Zuschauer. Eine Getriebene, die umso selbstbewusster ihre Stimme erhebt, alle Ausdrucksmöglichkeiten ihres dramatischen Soprans ausreizt, von der Koloratur bis zum Schrei – und doch mit ihrer Botschaft nicht durchdringt. Bei Jason nicht, dem Günter Papendell seinen fülligen, warm grundierten Bariton leiht. Und erst recht nicht bei König Kreon, dessen Angst vor allem Fremden sich in Ivan Tursics überschnappendem Tenor auf entlarvende Weise manifestiert.

Assoziationsraum zu den Flüchtlingsschicksalen öffnet sich

Der Kindsmord, das Kapitalverbrechen Medeas, ist bei Aribert Reimann wie auch in der Grillparzer-Vorlage nicht Dreh- und Angelpunkt des Stücks. Sondern „nur“ eine symbolische Handlung, mit der die Titelheldin sich für ein zweites Leben frei macht: indem sie sich auf denkbar grausamste Weise von ihrer bisherigen Existenz trennt. Jason hat sie verraten, um seine eigene Haut zu retten, und darum sieht sie nur noch den Ausweg, die gemeinsame Vergangenheit auszulöschen – durch den Tod ihrer Kinder. So tritt sie gewissermaßen aus der Gesamterzählung des Mythos heraus, kann als neutralisierte Person, den Grund allen Übels, das Goldene Vlies, an seinen Bestimmungsort zurückbringen. Dort in Delphi will Medea dann von den Priestern ihr Urteil erwarten.

Die Entscheidung des Regisseurs Benedict Andrews, keine echten Kinder auftreten zu lassen, sondern sie zu Puppen zu stilisieren, erscheint da absolut konsequent. Weil Medeas Söhne nichts als Verhandlungsmasse in diesem Machtkampf sind, werden sie szenisch auch ganz konkret zwischen den Erwachsenen herumgereicht. Ebenso überzeugt, dass Andrews das Geschehen über weite Strecken oratorienhaft gestaltet. Vorne singen die Darsteller in statischen Figurenarrangements, während die übrigen im Hintergrund auf einer Bank ihren nächsten Einsatz abwarten. So ist die Wirkung des archaischen Dramas viel stärker, als wenn der Regisseur die Parallelen zur aktuellen Weltlage platt nachgestellt hätte. Auch ohne Schwimmwesten und Schlauchboote auf der Bühne nämlich öffnet sich hier sofort der ganze Assoziationsraum zu den Flüchtlingsschicksalen im Mittelmeer, nur eben nicht direkt auf der Netzhaut, sondern tiefer drinnen, in Herznähe. Da, wo es wehtut.

Wieder am 25. Mai, 5., 20. und 25. Juni sowie 2. und 15. Juli

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