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Zwischen Ost und West. Der Berliner Schriftsteller Ingo Schulze.

© Gaby Gerster

Mauerfall und Folgen: Der entleibte Osten

Multiperspektivisches Spiel mit tödlichem Ernst: Ingo Schulzes Roman "Die rechtschaffenen Mörder".

Von Gregor Dotzauer

Worin liegt schon die Wahrheit einer Geschichte. Solange ihre innere Stimmigkeit im Vordergrund steht, geht es nicht selten den Fakten an den Kragen. Und solange man meint, es genüge, das Geschehene einfach Stück für Stück zusammenzutragen, unterschätzt man den Deutungsaufwand, der aus den Details etwas Ganzes macht.

Zwischen Nietzsches berühmtem Wort, es gebe keine Tatsachen, sondern nur Interpretationen, und dem, was ein göttliches Auge zu leisten hätte, das sämtliche Perspektiven in einer einzigen Megaerzählung vereint, klafft ein Abgrund.

Am einen Ende droht eine Beliebigkeit, die Nietzsche gar nicht im Sinn hatte, am anderen eine Aufgabe, die Menschen in ihrer unvermeidlichen Beschränktheit überfordert.

Wenn Ingo Schulze in seinem Roman „Die rechtschaffenen Mörder“ die Geschichte des fiktiven Dresdner Antiquars Norbert Paulini aus drei Perspektiven erzählt, ist man am Ende weit davon entfernt, Aufschluss über alle Rätsel zu erhalten, die sich daran knüpfen.

Wie konnte es also dazu kommen, dass sich Paulini, dieser unter seinem humanistischen Bildungsgut geradezu schwitzende, bis unter die Schädeldecke belesene Mann, nach dem Mauerfall in einen rechten Eiferer verwandelte? Oder: Hat er Lisa, die einzige Frau, die ihm in seinem an weiblichen Enttäuschungen reichen Leben, jemals nahestand, an der Goldsteinaussicht in der Sächsischen Schweiz vorsätzlich mit in den Tod gerissen?

Von der Heiligenlegende zum Schurkenstück

Ersteres, die politische Radikalisierung, verlangt zumindest nach Erklärungen. Letzteres, die Frage nach seiner verbrecherischen Schuld, aber schreit nach einer Antwort, die Schulze bestenfalls andeutet, obwohl sie nur Ja oder Nein lauten kann.

Was sich hier zwischen zwei Buchdeckeln also gegenseitig beleuchtet, lässt vieles im Dunklen, gibt auf raffinierte Weise aber auch zu verstehen, warum es so kompliziert ist, eine für alle Seiten zustimmungsfähige Erzählung herzustellen: Es ist jenseits aller Lust an der Spielerei zugleich der Punkt, aus dem Ingo Schulzes multiperspektivische Fiktion ihre Kraft schöpft, den Zerfall der Wirklichkeitswahrnehmung zwischen Ost und West darzustellen.

Was als vertrauenswürdige Heiligenlegende zwei Drittel des Romans lang zunächst einen unbeugsamen DDR-Bewohner schildert, der seinen Glauben an eine die Seele adelnde Höhenkammliteratur mit Zähnen und Klauen gegen die aus dem Westen herüberschwappende Marktwirtschaft verteidigt, entpuppt sich als pure Idealisierung.

Ost-Schriftsteller und West-Lektorin

Denn nach 200 Seiten öffnet Ingo Schulze die Falltür zu einem Schurkenstück, das Paulini einmal aus der Perspektive eines Ost-Schriftstellers namens Schultze (mit „tz“!) betrachtet, der diese mitten im Satz abbrechende Novelle als sein Debüt vorlegen will, und einmal aus der Perspektive von Schultzes West-Lektorin Theresa.

Die Kollision der historischen Blickwinkel – Ingo Schulze hat DDR-Umbruchszeit und Systemwechsel in Romanen wie „Neue Leben“, „Adam und Evelyn“ oder zuletzt „Peter Holtz“ immer wieder aufgegriffen – vollzieht sich indes noch vielschichtiger. Zu ihr gehört der primäre Aufstand des Protagonisten Paulini gegen seinen Erzähler Schultze.

Er droht ihm, unter tatkräftiger Hilfe seiner rechten Mitverschwörer, mit Konsequenzen für Leib und Leben, sollte er weiterhin darauf bestehen, ihm sein Geheimnis zu entreißen. Noch vor allen Fragen um „Ost-Entleibung“ und westliche Stiernackigkeit, die heute wohl unter dem identitätspolitischen Stichwort der cultural appropiation verhandelt würden, geht es darum, wer überhaupt mit welchem Recht wessen Geschichte erzählen darf.

Paulini ist ein kleiner Mephisto

Diese Ebene bekommt im Politischen eine zusätzliche metaphysische Dimension, wenn Paulini, der sich vor Schultze mit antiaufklärerischer Geste zum mephistophelischen Ungeheuer stilisiert, das all denen zürnt, „die sich zum Gott, zum Weltgeist aufwerfen – und ihren vielen kleinen Helfershelfern.“ Man könne keinen Gott ohne den Teufel haben, verkündet er: „Die Klugen, die Aufgeklärten und Selbstgerechten“ leugneten „die finsteren Heerscharen“. Und selbst da hat man Tiefe, Witz und Tücke dieses Buches noch nicht annähernd erfasst.

„Die rechtschaffenen Mörder“ bestätigen Seite um Seite Paulinis Lehre, „dass Literatur Eindeutigkeiten nicht mag“, wobei diese Feststellung dem, der sie kundtut, paradoxerweise dazu dient, die fatale Eindeutigkeit seines rechten Sinneswandels zu leugnen.

Was immer hier einen Moment lang unangefochtene Gültigkeit beansprucht, wird gleich wieder in ein unheimliches Zwielicht getaucht. Der virtuoseste Zug dieses an der Oberfläche geradezu widerstandslos leicht lesbaren Romans besteht jedoch vielleicht darin, dass Ingo Schulze die Autorität seines eigenen Schreibens unterminiert.

Bücher für ein ganzes Leben. Entsorgte DDR-Literatur auf einer Halde in Plottendorf bei Borna (1991).
Bücher für ein ganzes Leben. Entsorgte DDR-Literatur auf einer Halde in Plottendorf bei Borna (1991).

© Waltraud Grubitzsch/picture-alliance/ ZB

Das zeigt sich, wenn er die spannungsreiche Verwandtschaft von Lesen und Schreiben untersucht, die Paulini zu dem Bekenntnis führt: „Ich habe mich entschieden, Leser zu werden. Wer selbst schreibt, ist nicht mehr fähig, wirklich zu lesen. Nur der uneigennützige Leser, der sich einem Buch vorbehaltlos und ganz und gar zu öffnen vermag, kann es in seiner Differenziertheit und Komplexität erfassen.“

Paulinis Nachrufer, einen im Westen früh zu Ruhm gelangenden Ost-Schriftsteller namens Ilja Gräbendorf, verleitet es hingegen zu der Behauptung: „Ich lese, also schreibt es.“ Es zeigt sich aber noch viel mehr, indem die fragmentarische Schultze-Novelle mit ihrem weitgehend unsichtbaren Ich-Erzähler, der zugleich mehr und weniger weiß, als er darin preisgibt, unter Ingo Schulzes stilistischen Möglichkeiten bleibt.

Denn was Ingo Schulzes Schultze Paulini, einem Mann von höchstem Anspruch, neben den mit Titel und Autor erwähnten Antiquariatsschätzen zwischen Ernst Bloch und Witold Gombrowicz noch an unausgewiesenen Zitaten von Karl Gutzkow, Ernst Stadler oder Gottfried Benn unterjubelt, beackert ein Feld, aus dem eigentlich Großes wachsen müsste.

Prosa von altfränkischer Solidität

Die Ironie besteht nur darin, dass man es mit einer Prosa von altfränkischer Solidität zu tun hat, die in den Bereichen eines psychologischen Realismus verharrt. Mit marottenhafter Beharrlichkeit spaziert ein fast durchweg bei Vor- und Nachnamen genannter Norbert Paulini durch die Sätze, während seine Pensions- und Pflegemutter, Frau Kate, ohne ihren Rufnamen Helene auskommen muss.

Schultzes Prosa, durch die hindurch Ingo Schulze spricht, hat einen Hauch jener Antiquiertheit, die Paulinis elitäre Welt der Erstausgaben und Ausstattungswunder schon zu DDR-Zeiten unrettbar verloren erscheinen lässt. Der freie Buchmarkt entwertet sie dann vollends und wirft sie zusammen mit den Restbeständen des literarischen Sozialismus buchstäblich auf die Müllkippe.

„Die rechtschaffenen Mörder“ sind auch ein Requiem auf dieses kulturelle Massensterben. Mit ihm wird sich Paulini zugleich bewusst, dass er in der DDR sein Leben als Prinz Vogelfrei, so sein Spitzname in Verehrung von Nietzsches „Liedern des Prinzen Vogelfrei“, nur führen konnte, weil Viola, die tratschsüchtige, in Stasi-Diensten befindliche Friseuse und Mutter seines im Juni 1989 geborenen Sorgenkindes Julian die Hand über ihn hielt.

Gegenentwurf zu Uwe Tellkamps Welt

Ingo Schulzes Roman über seine Heimatstadt Dresden lässt sich in doppelter Hinsicht als Gegenentwurf zu Uwe Tellkamps erzählerischen Welten lesen – und natürlich auch zu dessen nationalkonservativen Anwandlungen.

Der pathetische Bildungsdünkel, den dieser im „Eisvogel“ vor sich hertrug, zeigt sich als schwaches Antidot gegen die Zumutungen der neuen Zeit, und das bürgerliche Wendeidyll, das er im „Turm“ schilderte, erscheint als Blase innerhalb eines sozial und mental zerrissenen Landes.

Diese Zerrissenheit wird nicht zuletzt von Lisa verkörpert, die als eine Art zeitgeschichtliches Liebestreibgut einmal bei allen drei Männern und deren Lebensentwürfen landet: dem Ost-West-Hybrid Ilja Gräbendorf, dem gegenüber dem Westen zumindest aufgeschlossenen Schultze und dem unverbesserlichen Ostler Norbert Paulini.

Die einzige Schwäche der „rechtschaffenen Mörder“ ist das Ungleichgewicht ihrer drei Teile. Während die dominierende Schultze-Novelle rund 200 Seiten einnimmt, beanspruchen die persönlichen Erinnerungen des aufstrebenden Autors an seine Begegnungen mit Paulini gerade noch einmal 80 Seiten.

Ambivalenz um Ambivalenz

Die abschließende Erzählung der Lektorin bringt es dann nur noch auf 40 Seiten. Das wirkt, als sei Ingo Schulze gegen Ende hin die Puste ausgegangen. Sonst aber ragt dieser intellektuell ehrgeizige und zu Recht für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierte Roman aus der deutschsprachigen Produktion dieser Jahre weit heraus – gerade weil er Ambivalenz auf Ambivalenz häuft.

„Die Bücher verstehen heißt, die Bücher überwinden“, erklärt der gewendete Norbert Paulini einmal und steigert sich zu der revolutionär gemeinten Aussage: „Die Tat ist die Antwort.“ Man kann das auch als Aufforderung verstehen, Leuten wie ihm in aller argumentativen, aus der Lektüre von Büchern wie denen von Ingo Schulze gewonnenen Ruhe entgegenzutreten.

Ingo Schulze: Die rechtschaffenen Mörder. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2020. 320 Seiten, 21 €. – Die Buchpremiere findet am Mittwoch, den 4. März, um 19 Uhr in der Akademie der Künste am Pariser Platz statt. Eine weitere Lesung mit Gespräch veranstaltet das Literarische Colloquium Berlin am 10. März um 20 Uhr.

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