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Matthias Zschokke: Die Kunst, übersehen zu werden

Ein Robert Walser unserer Zeit: Matthias Zschokke legt mit seinem Roman „Der Mann mit den zwei Augen“ ein Buch voller Boshaftigkeit, Wut und Witz vor.

Warum ist das Interessante eigentlich interessanter als das Langweilige? Ist denn Langweiliges nicht auch interessant? Matthias Zschokke stellt gerne vertrackte Fragen. In seinem neuen Roman mit dem seltsamen Titel „Der Mann mit den zwei Augen“ geht es um einen Gerichtsreporter, der die alltäglichen Fälle den spektakulären vorzieht. Das Spektakuläre „war ihm zu offensichtlich. Das Normale kam ihm auf eine viel spannendere Art kompliziert und interessant vor.“ Daraus ergibt sich, dass er mit seinen Reportagen nicht allzu erfolgreich ist. Denn die Welt bevorzugt nun einmal das Spektakuläre. Einer, der gegenüber Leuten, die interessant sein wollen, rasch die Geduld verliert und der sich selbst für langweilig hält, ist in ihren Augen eben nur: langweilig.

Matthias Zschokke ähnelt als Schriftsteller seinem „Mann mit den zwei Augen“. 1954 in Bern geboren, lebt er seit 1980 in Berlin, hat seither zahlreiche Romane, Erzählungen, Theaterstücke geschrieben und auch diverse Preise erhalten, und doch nie die große Aufmerksamkeit bekommen, die er literarisch verdient hätte. Das liegt daran, dass er – wie alle seine Helden – Nebensächlichkeiten den Vorzug gibt, dass er die leiseren Töne, das Abseitige und Einzelgängerische liebt und sich bescheiden im Hintergrund hält. Er ist ein Robert Walser unserer Zeit, einer, der sich klein macht, um sich unter den Zumutungen seiner Mitmenschen wegzuducken. In Kafkas Gregor Samsa, der sich mit einem Chitinpanzer wappnet, erkennt er einen Artverwandten. Dass ihn die selbstgewählte Rolle eines Mannes, der gern übersehen wird, auch ärgert, ließ er zuletzt in den fulminanten, an einen Freund gemailten Lebensmitschriften „Lieber Niels“ erkennen. Die Wut auf den Literaturbetrieb und alles Massenkulturhafte stand ihm gut. Sie grundiert nun auch den neuen Roman, der viel weniger freundlich ist als von Zschokke gewohnt.

Der Rückzug ins Schweigen und in die Einsamkeit, den dieser ZschokkeHeld angetreten hat, wird oft durchbrochen von langen, tiradenhaften Ausfälligkeiten: dem grotesk verschwurbelten Brief an eine Amtsrichterin, in dem er sich über steigende Mieten beklagt, einer wahnwitzig geschraubten Begrüßungsrede an einen neuen Nachbarn oder den sprachphilosophischen Ergüssen am Frühstückstisch, für die sich die Frau, die ihm da gegenübersitzt, nicht interessiert. Sie spricht lieber über ihren Nagellack.

Tatsächlich gibt es in diesem Roman sogar eine Handlung: Der Mann ist in die Kleinstadt Harenberg gezogen, um dort nach dem überraschenden Tod der Frau, mit der er zusammenwohnte, Erholung zu suchen. In seinen Erinnerungen entdeckt er, dass dieses rücksichtsvoll-distanzierte Zusammenleben vielleicht so etwas wie Liebe war. Ein verspäteter Liebesroman also, während der Mann in der Kleinstadt genauso einsam ist, wie er es in der Großstadt war.

Zschokke hat den Mann mit den zwei Augen wie ein Strichmännchen in allergrößter Allgemeinheit konzipiert. Wer ihm begegnet, vergisst ihn gleich wieder, so unauffällig sieht er aus. Die Wirtin, seine letzte Vertrauensperson, erkennt ihn selbst dann nicht wieder, nachdem sie auf sein Bitten hin mit ihm ins Bett gegangen ist. Die Geschichten von Katzen, Hunden, sinnlosen Reisen und quälenden Gästen, die der Mann erzählt, vergisst man aber nicht so leicht. Man könnte sagen: Der Roman handelt von Kommunikationsstörungen und Identitätsproblemen. Gespräche sind unmöglich, sie missraten regelmäßig zu absurden Monologen. Nähe ist kein Ziel, denn den Menschen ist besser aus dem Weg zu gehen. Nur auf Dinge und Tiere ist Verlass.

Sexualität erscheint folglich als pragmatischer, geschäftsmäßiger Akt, und zwar in den verschiedensten Varianten. Da wird Zschokke ziemlich derb und direkt. Das Geschlechtliche beschreibt er so, wie er auch Bewegungen im Straßenverkehr beschreibt: als äußerlichen Vorgang, dem er als bloßer Beobachter beiwohnt. Ähnlich kühl taucht auch die Erinnerung an eine Vergewaltigung durch einen alten Herrn auf, wie sie der Mann als Junge auf dem nächtlichen Nachhauseweg erlebte. Vielleicht hat es damit zu tun, dass das Sexuelle jeden Bezug zu den Gefühlen verloren hat und dass es schambehafteter ist, mit jemandem ins Gespräch kommen zu müssen, als die Geschlechtsteile aneinander zu reiben. Diese Gestörtheiten werden jedoch nicht psychologisiert oder auch nur kommentiert. Sie werden mit ungerührter Miene als Normalität zur Kenntnis genommen.

Man könnte diesen Roman deshalb auch als abgründiges Manifest gegen den Kapitalismus lesen, der nicht nur die Brötchen in Aufbackbatzen und überhaupt die Dinge in billige Waren verwandelt und damit vernichtet, sondern auch die Beziehungen zwischen den Menschen zerstört. Aber auch die gesellschaftskritische Schublade wäre zu klein für diesen Autor und ein Buch so voller Boshaftigkeit, Wut und Witz und der puren Lust am Erzählen. Zschokke macht aus Nebensächlichkeiten große Literatur und verwandelt das Langweilige in etwas Aufregendes. Das ist der entgegengesetzte Weg zu dem der vielen, den er in der Gesellschaft beobachtet und beklagt. Jörg Magenau

Matthias Zschokke: Der Mann mit den zwei Augen. Roman. Wallstein,

Göttingen 2012.

242 Seiten, 19,90 €.

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