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Der Schriftsteller Matthias Senkel, geboren 1977 in Greiz.

© Dietze / Matthes & Seitz

Matthias Senkels Roman „Dunkle Zahlen“: Spartakiade der Programmierer

Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse: Matthias Senkels Roman „Dunkle Zahlen“ über das Auseinanderdriften des Sowjetreichs und die Entstehung des Internets.

Knobeln, tüfteln, kombinieren, formalisieren und hartnäckig sein, um aus dem Pool der vielen Möglichkeiten jene auszuwählen, die das Problem am elegantesten lösen: Poesie und Mathematik haben vieles gemeinsam – nicht zuletzt den Traum, auf engstem Raum die ganze Welt unterzubringen. Originalität und Kreativität mögen interessanter sein, aber sie sind nichts ohne die Fähigkeit, so lange an einer Sache dranzubleiben, bis sie gelöst scheint. Ein Hauch von Arroganz umweht die gebeugten Häupter der begabten Tüftler auch ohne ihr Zutun. Das Wissen, etwas zu können, wofür andere nicht die Geduld aufbringen, steht ihnen ins Gesicht geschrieben.

„Dunkle Zahlen“, der zweite, für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierte Roman des in Leipzig lebenden Lyrikers und Romanciers Matthias Senkel, ist ein vor Witz und Intelligenz nur so funkelndes Husarenstück. Der 1977 im thüringischen Greiz geborene Schriftsteller erzählt eine ebenso realitätsnahe wie fantastische Geschichte voller Einfälle und Flunkereien, hineingezwirbelt in die bunten Stränge, in denen sich Technik, Spionage und Geheimdienst mit der russischen Literatur verbinden.

Der selbstironische Prolog - „- was denn, was denn?! < (Das bin ich, der sich da aufplustert.)“ – entwirft ein wildes Spiel um eine verschollene Literaturmaschine. Sie soll die Jahre 1821 bis 2043 bearbeitet haben. Dummerweise ist sie nur als unvollendetes Gedicht überliefert. Ein zugegeben recht langes „Poem“. Es heißt „Dunkle Zahlen" und ist der Roman, den wir in Händen halten. Matthias Senkel ist natürlich nicht einfach dessen Autor. Er gibt sich als Übersetzer aus, auch wenn er nicht verrät, aus welcher Sprache er das Buch übertragen hat. Aus dem Jägerlatein der Computer-Frühzeit womöglich?

Dystopischer Blick in die Zukunft

Denn der Roman spielt, zumindest in dem, was man seinen Plot-Anker nennen kann, 1985 in Moskau. In einem Hotel mit dem bezeichnenden Namen Kosmos findet eine sogenannte Programmierer-Spartakiade statt. Aus zahlreichen sozialistischen Ländern sind junge Menschen angereist. Eine Woche lang haben sie Zeit, um die Wette zu programmieren, gut betreut von Technikern und Trainern – und heimlich auch vom KGB, der die besten Lösungen abschöpft, wie der Leser mit der Zeit begreift.

Die kubanische Mannschaft aber bleibt verschwunden, zumindest taucht sie nicht bei der Spartakiade auf. Von Quarantäne ist die Rede. Mireya Fuentes, die unerschrockene Übersetzerin, macht sich auf die Suche nach ihren Landsleuten. Sie ist so etwas wie der Guide durch die raumzeitlich höchst geschmeidig konstruierten Labyrinthe des Romans. Ihre Suche bildet den roten Faden, den Senkel kunstvoll mit Michael Bulgakows „Der Meister und Margerita“ verknüpft.

Hin und her springend zwischen Orten und Zeiten entsteht ein Tableau der Sowjetunion am Vorabend ihres Auseinanderbrechens und zugleich ein dystopischer Blick in die Zukunft. Zwei gegenläufige Bewegungen schaltet der Roman zusammen: das Auseinanderdriften des Sowjetreichs und die Entstehung des Internets, das im Konferenzsaal des Hotel Kosmos wohl schon spielerisch erprobt wird, tatsächlich aber erst vier Jahre später am Genfer Kernforschungszentrum Cern entwickelt wurde.

Keiner versteht die Brisanz der Erfindung

Metropolen wie Moskau, Leningrad, Kiew, Havanna sind ebenso Schauplätze wie sibirische Kleinstädte, die Insel Capri (wo Lenin 1908 bei Gorki weilte) oder sagenumwobene Städte wie Atlantis und Babylon.

„Städte umzugestalten“ und „Schaltkreise zu optimieren“ sei so ziemlich das Gleiche, betont der Experimentalarchitekt Dmitri Sowakow in munterer, auch für den Bau des Romans charakteristischer Analogiebereitschaft, während er zum ersten Mal seit zehn Jahren auf seiner Geliebten liegt und ihren Körper kartografiert. Körperpartie für Körperpartie erzählt er ihr von all den Reisen, die er unternommen hat. Die Frau, die sich das gefallen lässt, ist nicht irgendwer. Es handelt sich um Jewhenija Swetlatschenko, einst Schreibkraft eines Untersuchungsrichters und dank ihrer scharfsichtigen Kombinationsgabe zur Generalmajorin des KGB aufgestiegen. 1985 hat sie im Hotel Kosmos das Sagen.

Leonid Ptschukow, die vierte Hauptfigur, illustriert, wie eng mathematisches und poetisches Denken zusammengehören. In Kiew geboren, hat er es in Moskau zum vielversprechenden Mathematiker gebracht, bevor er nach einem Unfall ins Koma fällt. Kaum kommt er wieder zu Sinnen, überfällt ihn ein unbezähmbarer Drang, zu dichten. Erst als er zu Papier und Stift greift, lässt sich der Versfluss bremsen. Leonid hat Ende der 1950er Jahre den Prototyp eines Rechners entworfen, der die Leistungsfähigkeit Künstlicher Intelligenz messen kann. Doch keiner versteht die Brisanz seiner Erfindung, nicht einmal das Militär.

Roman als „golemartige Literaturmaschine“

„Dunkle Zahlen“ entfaltet die tatsächliche Entwicklung des Rechenautomaten, von Charles Babbages und Ada Lovelaces mechanischer Rechenmaschine über schrankwandgroße Röhrenrechner bis hin zu Spielkonsolen und PCs. Vor allem aber unternimmt der Roman eine phantasmagorische Reise durch die rätselhaften Windungen sowjetischer Sprach- und Ingenieurskunst. Wie konnte es sein, dass die UdSSR, die den Sputnik ins All schoss und bemannte Raumfahrt betrieb, sich abhängen ließ, als es um Mikroprozessoren und das Internet ging? Matthias Senkel referiert eine Menge Witze darüber – etwa einen, in dem Radio Eriwan auf die Frage nach dem amerikanischen Vorsprung in der Mikrotechnologie antwortet, der VEB Kombinat Robotron habe mit dem Bau des größten Mikrochips der Welt einen „Etappensieg“ errungen.

Überboten wird das vom klugen Ingenium des Autors, der ausgerechnet einen erfundenen russischen Dichter namens Gawriil Teterewkin in die Geschichte der russischen Literatur von Puschkin, Lermontow und Gogol, über Bulgakow und Majakowski bis hin zu Leonid Dobytschin, Joseph Brodsky und den Moskauer Konzeptualisten einbaut. Er soll die Software des „lyrischen Simulationsautomaten“ entwickelt haben. Als eine solche „golemartige Literaturmaschine“ dürfen wir auch diesen Roman begreifen. Der „GLM-3“, wie es abkürzungsfreudig und mit Schaubildern heißt, funktioniert wie der 1958 in der Sowjetunion entwickelte Setun-Rechner nach dem Ternärsystem, also einer Dreierlogik, in der es nicht nur Wahr und Falsch gibt, sondern auch Weder noch.

Senkel mischt den deutschen Literaturbetrieb auf

Nach seinem Romandebüt „Frühe Vögel“, einer Fantasie-Geschichte der Aeronautik, hat sich Matthias Senkel mit „Dunkle Zahlen“ in die Gruppe genialischer Nerds hineingeschrieben, die den deutschen Literaturbetrieb mit ihren Einfällen aufmischt. Mit Clemens Setz verbindet ihn die Leidenschaft für die Kombination von Mathematik und Poesie, mit Dietmar Dath der Hang zu Technik und Dystopie, auch wenn er ihm spielerischer folgt und der Restwärme sozialistischer Utopie wohl weniger zutraut als Dath.

Matthias Senkel hat ein gutes Ohr für die Variationsbreite künstlicher und natürlicher Sprachen, intelligent speist er Soziolekte und Dialekte in seine „Literaturmaschine“ ein. Man darf davon ausgehen, dass er die Software ständig erneuert und womöglich in Zukunft unvorhersehbare Programme ausheckt. Ein Schriftsteller, auf den man nachhaltig gespannt bleiben wird.

Matthias Senkel: Dunkle Zahlen. Roman. Matthes & Seitz, Berlin 2018. 488 Seiten, 24 €.

Meike Feßmann

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