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Chinesische Frauenwirtschaft. Mu Ze Latso (vorne) und eine Freundin, beide vom Volk der Mosuo, beim Sammeln von Algen für das Vieh. Die Mosuo sind eine Untergruppe der offiziell anerkannten Minderheit der Naxi. Sie leben an den Ufern des Lugu-Sees im Nordwesten der Provinz Yunnan und bilden eine vormoderne matrilineare Gesellschaft, in der die Männer in den meisten Bereichen untergeordnet sind.

© Christian Pilitz /Corbis via Getty Images

Matriarchat und Patriarchat: Wer das Sagen hat – und wer das Klagen

Zurück in die Zukunft: Die Evolutionsbiologin Meike Stoverock träumt von einer neuen Vorherrschaft der Frau.

Wie viele Geschlechter gibt es, zwei, drei, sechs oder gar sechzig, wie es Facebook seit sieben Jahren seinen Nutzern anbietet? Oder sollte man Geschlechtsidentität überhaupt fluide auffassen, also so, dass man sie gar nicht kategorial fixiert? Dann könnte man mit ihr spielen. Meike Stoverock erzählt „Vom Anfang und Ende der männlichen Zivilisation“. Sie ist keineswegs naiv, was die sozialen Medien betrifft. Sie ist auf Twitter unterwegs und betreibt einen Blog (www.fraumeike.de). Deshalb bittet sie die Leser*innen am Anfang ihres Buches erst einmal um Geduld.

[Meike Stoverock: Female Choice. Vom Anfang und Ende der männlichen Zivilisation. Tropen Verlag, Stuttgart 2021. 351 Seiten, 22 €.]

Hier gehe es nicht zu wie auf Twitter, betont sie, wo man bei Reizwörtern mit „You lost me at ...“ aussteigt. Argumente in Büchern funktionieren anders, idealerweise hört man erst einmal zu und bleibt bis zum Ende dran. Deshalb stellt sie klar: Es geht nicht um Einzelne, nicht um ein Ich oder ein Du oder persönlich Betroffene. Alles, was sie als Evolutionsbiologin darlege, ziele auf Populationen, also große Gruppen. Wenn sie von „Mann“ oder „Frau“ rede, meine sie den Durchschnittsmann, die Durchschnittsfrau. Eine Grafik zur Gauß’schen Normalverteilung rundet die Einführung in naturwissenschaftliche Argumentationsmuster ab.

Meike Stoverock, die während der Ehe mit Sascha Lobo dessen Nachnamen trug, weiß, dass sie sich auf ein „Minenfeld“ begibt, wenn sie ihre Überlegungen zum Stand der Zivilisation auf zwei Geschlechter beschränkt. Als Biologin aber ist sie sich sicher: Sobald es um Fortpflanzung geht, gibt es nur zwei Geschlechter. Das eine Geschlecht stößt Genmaterial aus, das andere empfängt es. Meistens ist das ausstoßende Geschlecht männlich, das empfangende weiblich, so sehr es sich auch nach Klischee anhört.

Einst mussten sich die Männer anstrengen

Unter dem anmutig klingenden Fachbegriff „Female Choice“ möchte sie eine ganze Zivilisation abräumen. Es geht um die rund 10 000 Jahre seit der Neolithischen Revolution, also seit dem Beginn der Sesshaftigkeit, die trotz des etwas irreführenden Ausdrucks nicht ereignishaft über die Menschheit kam, sondern sich über Jahrtausende entwickelte. Aber natürlich geht es um einen viel längeren Zeitraum, wenn eine Evolutionsbiologin auf die Geschlechterdifferenz blickt.

Wie bei den meisten Tierarten, so das zugrunde liegende Argument, war es auch beim Homo sapiens lange so, dass die „Weibchen“ die „Männchen“ ausgesucht haben. Die einen mussten sich anstrengen und einen mächtigen Zauber veranstalten, die anderen haben entschieden, mit wem sie sich paaren. Das weibliche Geschlecht hatte die Wahl: „Female Choice“.

Aus evolutionsbiologischer Perspektive ist das einleuchtend. Da die Weibchen der meisten Wirbeltierarten sehr viel mehr Aufwand für die Nachkommen betreiben müssen, hat sich dieses Verhalten durchgesetzt. Beim Homo sapiens ist der Aufwand extrem. Den rund 50 Millionen Samenzellen pro Ejakulation, die der Mann großzügig verschleudern kann, steht bei der Frau eine begrenzte Anzahl von Eizellen gegenüber, von denen meist nur eine pro Zyklus reift. Kommt es zu einer Befruchtung, teilt die Frau neun Monate lang ihren Stoffwechsel mit dem Fötus, muss die Geburt lebend überstehen und ist durch die Stillzeit eng an das Kind gebunden.

Menschenkinder kommen als „Nichtskönner“ auf die Welt. Sie brauchen mehr Fürsorge und Pflege als die Nachkommen anderer Säugetiere. Das führt zu verschiedenem Fortpflanzungsverhalten: Männer gehen „auf Masse“, Frauen „auf Klasse“, schreibt Stoverock. Prächtige Männchen versprechen prächtigen Nachwuchs. Die Nachkommen der Weibchen, die sich an diese Auswahlstrategie halten, haben bessere Überlebenschancen.

Das ist auch beim Menschen so, insofern er ein Tier unter anderen ist. So weit die Theorie. Charles Darwin sprach von „sexueller Selektion“ – mit der Pointe, dass das Weibchen nach Schönheitskriterien auswählt, die der Anpassung an die Umwelt, also der „natürlichen Selektion“, entgegenstehen. Erstaunlicherweise taucht weder „Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl“ (1871) noch „Die Entstehung der Arten“ (1859) in Stoverocks Literaturverzeichnis auf.

Mit der Sesshaftigkeit verging die Macht der Frauen

Die Freude an ihrem Gegenstand führt zu langen Umwegen über die verschiedenen Ausformungen der „Female Choice“ in der Tierwelt. Sie sind bunt und vergnüglich (wie der mit Paradiesvögeln geschmückte Umschlag), aber nicht wirklich zielführend, was ihre These betrifft. Sie lautet: Mit Landwirtschaft, Sesshaftigkeit und Besitz hat im Neolithikum jener Prozess eingesetzt, mit dem die Männer das evolutionäre Gesetz der „Female Choice“ aushebeln konnten. Mussten sie vorher um Frauen konkurrieren und ihre Energie in Kämpfe um Sex investieren, saßen die Frauen nun fest und hatten keine Wahl.

Die Männer haben Zeit für anderes und die „männliche Zivilisation“ beginnt. Sie können Vermögen anhäufen, Erfindungen machen, sich in der Öffentlichkeit bewegen, politische Entscheidungen treffen. Diesen über Jahrtausende gehenden Prozess verfolgt die Autorin über viele Etappen. Von den drei großen monotheistischen Religionen, die mit einem männlichen Gott an der Spitze die Geschlechterhierarchie absichern, bis zur bürgerlichen Ehe: Überall entdeckt sie das gleiche Prinzip. In der Gegenwart aber, so ihre These, beginne die „Female Choice“ wieder zu wirken. Denn die Frauen haben sich mit der Pille die Verfügung über ihre Fruchtbarkeit zurückerobert. Ist das plausibel?

Es ehrt die Biologin, dass sie sich, kaum hat sie das proklamiert, um die Verwundeten und Versehrten kümmert. Während sie sich Gedanken macht, wie man die Gewalt unter unfreiwillig zölibatär lebenden Männern durch Triebabfuhr zügeln kann (z. B. mit Pornografie oder Prostituiertenbesuchen auf Krankenschein), während sie sich ausmalt, wie eine befriedete Gesellschaft in Tausenden von Jahren aussehen könnte, hat sie die Plausibilität ihrer These nicht wirklich geprüft.

Kann ein Prinzip, das unter vorgeschichtlichen Bedingungen entstanden sein soll, in Zeiten der Hochtechnologie einfach wieder greifen? Müsste nicht mit der Pille ein anderer Effekt eintreten? Sex und Fortpflanzung lösen sich voneinander. Und die ganze Geschichte müsste eher über die Linie der Reproduktionsmedizin und der Vervielfältigung der Geschlechter erzählt werden.

Ablösung des Sexuellen von der Reproduktion

Was sich in der neuen Geschlechterunordnung beobachten lässt, ist nicht einfach „kulturalistisch“, wie Stoverock das nennt. Es ist eine Folge der Ablösung des Sexuellen von der Reproduktion. Es nützt deshalb wenig, wenn ein Philosoph wie Christoph Türcke in seinem Buch „Natur und Gender“ (C. H. Beck, München 2021, 233 S., 22 €), die neuen Gender-Freiheiten als „Machbarkeitswahn“ entlarven will, auch wenn es philosophisch plausibel ist, Kants Ding an sich als eine Art Rettungsanker in die Natur zu werfen, um jederzeit festen Boden unter die Füße zu bekommen, wenn einem der Sinn danach steht.

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Diesen festen Boden gibt es nicht mehr. Und zwar nicht deshalb, weil Gruppen, deren Angehörige sich jenseits der Cis-Mehrheit positionieren, identitätspolitischen Aktivismus betreiben, sondern weil die Fortschritte der Biologie diese Ablösung befördert haben. Kein Mensch muss sein Geschlecht im Zeitalter von Gentechnik, Molekularbiologie und Reproduktionsmedizin über die Fortpflanzungsfunktion definieren, auch wenn das den meisten Menschen naheliegend erscheint.

Dass Michel Foucaults Traum von der Freiheit der Lüste jemals wahr werden kann, ist allerdings spätestens seit der Aids-Pandemie unwahrscheinlich geworden. Die frei gewordene Energie sucht sich ein anderes Terrain: Jede*r Einzelne definiert sich selbst in potenziell unendlicher Besonderheit.

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