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Kultur: Mathilde, wohin bist du geraten!

Antiklerikale Provokation, bürgerliche Errungenschaft, Service: Bis in die 60er Jahre war die Feuerbestattung umstritten. Das 1999 eröffnete Krematorium am Berliner Baumschulenweg versteht sich als Dienstleistungszentrale für den modernen Tod.

Wo die Menschen so klein sind und die Säulen so hoch, da mag man nicht laut reden. Das „I like it“ von Matthew ist deshalb sehr gedämpft, und das „Wie scheußlich“ der drei Damen auf der anderen Seite des Wasserbeckens auch. Warm und freundlich sei das hier, sagt Matthew. Aus Oregon ist er und mit seinem Architekturseminar auf Exkursion. Die drei Damen kommen aus Köpenick, um nur mal vorbeizuschauen – „in unserem Alter interessiert man sich langsam für solche Dinge“ – und sind ganz enttäuscht: „So viel Beton. Da kann man sich auch unter eine Autobahnbrücke legen.“ Sie schütteln die grauen Köpfe angesichts der merkwürdig lichten, zwischen stahlgrau und türkis changierenden Farbe, die Kreuz, Kanzel und Sitzbänke tragen.

„Alles aus Blech“, murmelt eine, zieht den Schal fester und gibt den Marschbefehl: „Gehen wir, das hat doch überhaupt nichts Tröstliches.“ Matthew und die anderen Studenten lehnen an den Säulen, sitzen vor dem Wasserbecken, zeichnen in ihre Skizzenblöcke, lassen den weißen Sand aus den Nischen durch die Finger rieseln oder blinzeln bloß in das Licht, das am Ende der Säulen wie ein himmlisches Strahlen einfällt. So stelle er sich einen ägyptischen Tempel vor, sagt Matthew, erhaben „and very peaceful“. „Die jungen Leute haben eben nicht unsere Erfahrungen – die saßen nie im Bombenbunker“, sagen die drei Köpenicker Damen.

Dabei ist das hier weder Bombenbunker noch Tempel. Aber ein Haus, in dem es ähnlich ernst zugeht. Die gewaltige Säulenhalle, die sandverwehten Gedenknischen, die reduzierte Möblierung in dem merkwürdigen Türkisgrau, das im Fachjargon „Porschegrün“ heißt. Es ist das Krematorium Baumschulenweg in Treptow. In Gestaltung und Technik eines der modernsten Europas: 13 000 Einäscherungen können hier im Jahr vollzogen werden. Aber nur 7 038 gab es im vergangenen. Und bloß bei etwa jeder zehnten Einäscherung fand auch die Trauerfeier im Krematorium Baumschulenweg statt. Obwohl es, seitdem es 1999 in Betrieb ging, von Architekturkritikern in den höchsten Tönen gelobt wird.

Dieses Monument aus Geometrie, Stille und Licht gebe dem Tod die Würde zurück, heißt es. Trauern bekomme hier einen anderen Rang, überhaupt sei dies einer der besten Räume der deutschen Gegenwartsarchitektur. Das Krematorium steht in allen Berliner Architekturführern, weshalb Jutta Knubbe, die das Krematorium leitet, zusammen mit ihren Mitarbeitern alle möglichen Gäste zu betreuen hat: Touristen, Hobbyfotografen und Leute wie den Herrn mit dem Rucksack, der aus Bonn angereist ist und gleich zum Wesentlichen kommt: „Haben Sie Postkarten?“

Auch einen der beiden Architekten kann man hier gelegentlich antreffen. Ein berühmter Mann, dessen internationaler Ruf sich aber mit einem ganz anderen Bau verbindet: Axel Schultes, Architekt des Kanzleramtes. Immer noch führt Schultes gern Besucher nach Treptow: „Das ist das Haus, mit dem ich am zufriedensten bin.“ Nur Särge kommen eben nicht so viele. Sicher, das liegt vor allem am „Leichentourismus“, daran, dass die Bestattungsunternehmen lieber außerhalb von Berlin die Leichen verbrennen lassen, bis nach Meißen oder Polen fahren, weil da die Einäscherungen billiger sind. Damit hatten die Zuständigen im Berliner Senat nicht gerechnet, als sie einen Leasingvertrag unterschrieben, durch den sich die Gesamtkosten des Krematoriumbaus auf knapp 80 Millionen Euro belaufen. Doch das ist es nicht allein.

Wie im Thermalbad

Das Krematorium Baumschulenweg hat noch ein besonderes Problem: Es liegt zwischen den Zeiten, irgendwo zwischen Gegenwart und Zukunft. Für die, die es brauchen könnten, ist es viel zu modern. Und die, die es schön finden, haben noch lange Zeit, bevor sie seine Dienste in Anspruch nehmen müssen. So musste sich Krematoriumsleiterin Knubbe nach der Eröffnung von den Bestattern einiges anhören: Wann denn hier die Maler kämen, haben manche gefragt. Und für andere stand gleich fest: Einäschern ja, aber Trauerfeiern auf keinen Fall: „Das ist für unsere Kundschaft nichts, so kann ein Krematorium nicht aussehen.“

Dabei war es in der kurzen Geschichte der modernen Feuerbestattung eigentlich nie ganz klar, wie ein Gebäude aussehen soll, in dem eine ungeheuerliche Gleichzeitigkeit stattfindet: würdevoller Abschied und schnellstmögliche Verbrennung, Jenseitshoffnung und pragmatische Entsorgung, Trauer und Technik.

1878 wurde das erste deutsche Krematorium gebaut. Im thüringischen Gotha war das, wo die erste Einäscherung eine echte Sensation wurde. Auch deshalb, weil der Ingenieur Carl Heinrich Stier dadurch ein zweites Mal bestattet wurde, wie der Hamburger Kulturhistoriker Norbert Fischer in seinem Buch „Wie wir unter die Erde kommen“ schreibt: „Der fanatische Anhänger der Feuerbestattung hatte nicht zu Unrecht geargwöhnt, dass er diesen Triumph der Technik nicht mehr erleben würde, und daher testamentarisch verfügt, wieder aus dem schmutzigen Erdgrab befreit und doch noch den Flammen übergeben zu werden, sobald das erste Krematorium fertig wäre.“ Fanatischer Anhänger der Feuerbestattung? Durchaus.

Wer im ausgehenden 19. Jahrhundert für die Feuerbestattung eintrat, musste kämpfen können. Gegen den erbitterten Widerstand von Staat und Kirche, vor allem der katholischen. 1886 untersagte sie ihren Mitgliedern, sich einäschern zu lassen. Ein Verbot, das bis 1963 bestand. Schließlich ging es bei dem Kampf um die Feuerbestattung um Macht: Die Kirche witterte den aufklärerischen, antiklerikalen Geist hinter der Bestattungsbewegung und wollte sich das Beerdigungsritual nicht aus der Hand nehmen lassen. Außerdem verbanden sich für die Gläubigen mit dem großen Feuer eher negative Assoziationen: Hexen waren auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden. Auf die Gotteslästerer wartete das Fegefeuer. Und so wurden ernsthafte Debatten darüber geführt, ob die Eingeäscherten zusammen mit ihren Knochen nicht auch jede Chance auf Auferstehung verlören.

Gegen den Widerstand der Kirche formierten sich vor allem die selbstbewussten, gebildeten Städter – das Krematorium wurde zur bürgerlichen Errungenschaft. Ganze Vereine zur Förderung der Feuerbestattung wurden gegründet. Ihre Mitglieder: Liberale und Sozialdemokraten, oft Naturwissenschaftler und Ärzte, Leute, die eine rationale Einstellung zum Tod hatten und von der hygienischen und Platz sparenden neuen Bestattungsart überzeugt waren. Rudolf Virchow war Ehrenmitglied im Berliner Verein, der sogar eine eigene Zeitschrift herausgab: Die „Flamme“ unterrichtete vierteljährlich über die stetig wachsende Zahl der europaweiten Einäscherungen und über die stets scheiternden Anträge auf Zulassung der fakultativen Feuerbestattung im Berliner Abgeordnetenhaus. Merkwürdigerweise blieb ausgerechnet im aufgeklärten Preußen die Einäscherung lange verboten. In Berlin, wo sie heute 76 Prozent der Bestattungen ausmacht, wurde erst 1912 das erste Krematorium gebaut.

Was wurde den Vorreitern der Feuerbestattung nicht alles vorgeworfen, heidnische Sitten, Brutalität, Seelenlosigkeit. Nicht immer ganz zu Unrecht. Etwa wenn Naturwissenschaftler der Feuerbestattung einen landwirtschaftlichen Nutzen abgewinnen wollten: Der Heidelberger Physiologe Jakob Molleschott vertrat die Ansicht, dass durch die Verbrennung von Leichen die Luft durch Kohlensäure und Ammoniak angereichert würde, was wiederum die Fruchtbarkeit des Ackerbodens steigern würde. Die Zeitschrift „Die Gartenlaube“ feierte diesen „erhebenden“ Gedanken, Kirchenleute schüttelten sich vor Entsetzen, und die Heidelberger Universitätsleitung rügte Molleschott für seine „Frivolität“, woraufhin er gekränkt seine Lehrberechtigung abgab.

Die Verteidiger der Feuerbestattung gaben sich größte Mühe, die Profanität der Leichenverbrennung durch ein besonders pietätvolles Ritual zu verbrämen. Musterbestattungen wurden beschrieben, Verbrennungsballaden verfasst. Mathilde Wesendonck, eine Freundin Richard Wagners, schickte eine „Kantate zur Feuerbestattung“ zur Vertonung an Johannes Brahms, der darüber bloß lachte („Oh Mathilde, wohin bist du geraten!“). Auch die Gebäude sollten würdevoll aussehen: viel Historismus, wenig Schornstein. Die Architekten nahmen Anleihen an allem, was imposant war und positiv besetzt. Ihre Krematorien ähnelten oft Kirchen, griechischen Tempeln und auch mal einer Fabrik – jedenfalls bis Auschwitz.

Nach 1945 schien es lange Zeit unmöglich, einen ambitionierten, künstlerischen Entwurf für den Krematoriumsbau vorzulegen. Als das Architekturbüro Charlotte Frank/Axel Schultes sich daran wagte, hatte es ein klares Ziel: alles Bedrückende, Schwere zu vermeiden, auch die christliche Symbolik. Das Krematorium Treptow sollte ein Haus für Abschiede aller Art werden. Weitsichtig in einer Stadt, in der es so viele verschiedene Religionsgemeinschaften und um die zwei Millionen Konfessionslose gibt.

Tatsächlich haben die glatten grauen Wände des Krematoriums außer ihrer stummen Feierlichkeit keine Botschaft. Oder fast keine. Denn eine Art Zuversicht weht einen schon an, in dieser hohen Säulenhalle, die aufrechte Trauer will und nicht ergeben gebeugtes Leid. Diskreter Trost auch in den Feierhallen, deren Betonwände da, wo sie aufeinander zu streben, plötzlich innehalten und den Blick freigeben. In einen neuen Raum, ins Tageslicht, auf ein „Es-geht-weiter“.

Das Krematorium in Treptow ist Projektionsfläche für viele Jenseitsvorstellungen. Weshalb Jutta Knubbe, die Leiterin, schon die verschiedensten Kommentare zu hören bekam: Die einen erinnert die Säulenhalle an die Moschee in Córdoba, die anderen an Stonehenge, mancher fühlt sich dort wie bei den alten Griechen und einem fielen sogar Wellness-Freuden ein: „Hier ist es wie in meinem Thermalbad im Engadin!“ In einem aber ist das Krematorium Baumschulenweg ganz klassisch: in der Trennung von Trauer und Technik. Die Trauergemeinde im vorderen Teil des Gebäudes sieht nicht, was hinten passiert. Wie die Särge am Seiteneingang angeliefert werden, mit einem Strichcode versehen, von Robotern in den Kühlraum gebracht und schließlich in Öfen geschoben, die mit Computersteuerung und Filteranlagen versehen sind.

Dagegen mutete der erste Krematoriumsversuch, der ausgerechnet im katholischen Italien stattfand, noch recht seltsam an. Ein Anatomieprofessor namens Brunetti hatte da einen Verbrennungsapparat konstruiert, der es zwar 1873 auf die Weltausstellung in Wien schaffte, aber eigentlich nicht viel mehr war als ein von Mauern umgebener Scheiterhaufen. „Brunettis Leichen“, bemängelte ein zeitgenössischer Kritiker, „werden geschmort und verkohlt; sie müssen angebunden werden, weil sie im Verkohlen Bewegungen ausführen – ein grässliches Bild“. Kurze Zeit später fand sich die wegweisende Technologie in Dresden, bei der Firma Siemens: ein geschlossener Ofen, der statt mit der offenen Flamme mit hocherhitzter Luft arbeitete.

Eines der wichtigsten Argumente für die Durchsetzung der Feuerbestattung war die Platzersparnis, denn auf den Friedhöfen der schnell wachsenden Industriestädte wurde es im Laufe des 19. Jahrhunderts eng. Eine Urne, die mit einem halben Quadratmeter auskommt, ist da praktisch. Heute hat sich das Problem umgekehrt: Auf Berlins Friedhöfen gibt es zu viel Platz. Bis zu 280 Hektar werden in den nächsten Jahren frei, hat man im Senat ausgerechnet und erstellt derzeit einen Plan, wo aus einem Stück Friedhof ein Park entstehen kann, ein Spielplatz oder Bauland.

Das Krematorium hat nicht nur die Leichen verschwinden lassen, es macht auch die Trauer weniger sichtbar. Die Grabstellen sind kleiner geworden, und nun beginnen sie zu verschwinden. 39,4 Prozent der Berliner lassen sich anonym bestatten, irgendwo unter einer großen Rasenfläche auf dem Friedhof, wo kein Kreuz und kein Stein an sie erinnern. „Die sagen sich: lieber kein Grab als ein ungepflegtes“, sagt Jutta Knubbe. Aber auch sie hat schon erlebt, dass eine anonym bestattete Urne wieder ausgegraben und in ein eigenes Grab verlegt werden musste. „Weil die Kunden gemerkt haben, dass sie doch einen Ort zum Trauern brauchen.“

Günstige Sternenkonstellation

Kunden? Na klar, sagt Jutta Knubbe: „Wir sind doch Dienstleister.“ Der moderne Tod brauche viel mehr Beratung. Frau Knubbe zündet eine von ihren superdünnen Zigaretten an. „Wie manche Leute über den Tisch gezogen werden!“ Wie ihnen Schmuckurnen verkauft werden, obwohl die doch in der Erde verschwinden. Wie sie für teure Beschläge am Sarg bezahlen und nicht wissen, dass die vor dem Ofen mit dem Hammer abgebrochen werden, damit sie die Verbrennung nicht stören. Da müsse man einfach mehr Information bieten, intensiver auf Kundenwünsche eingehen und gewiss würde man so auch für „das Haus“ werben können.

Ein Weg also, wie das Krematorium Baumschulenweg endlich rentabler werden könnte und damit wenigstens ein Stückchen von dem riesigen Kostenberg herunterkäme? Michael Schneider, Treptower Umwelt-Stadtrat, hebt die Schultern. Natürlich, mehr Werbung, mehr Service, das seien alles richtige Ideen, ja man könne sich sogar überlegen, ob man es nicht manchen Bestattern nachmacht und für Altenheime Führungen durchs Krematorium anbietet. Aber wie sollte das gehen, wenn man „in das Korsett des öffentlichen Dienstes“ eingeschnürt sei, an Tarifverträge gebunden und sich jede Neuerung von der Bezirksversammlung absegnen lassen muss?

Dabei geht es anders. In Hamburg zum Beispiel. Das Krematorium und die beiden Friedhöfe Ohlsdorf und Öjendorf bilden eine Anstalt öffentlichen Rechts. Die kann selbstständig arbeiten. Mit Marketingabteilung, einer Mitarbeiterin für die Öffentlichkeitsarbeit, eigener Homepage. Und Einnahmen, die die Ausgaben decken. Und einer Menge neuer Bestattungsideen. Eine der erfolgreichsten: der „Garten der Frauen“ auf dem Friedhof Ohlsdorf, ein Areal nur für weibliche Verstorbene, das zugleich der Denkmalpflege dient. Die fast vergessenen Grabsteine bedeutender Hamburgerinnen sind in den „Garten der Frauen“ verlegt worden. Wer sich nun dort bestatten lassen will, wird Mäzenin für den Erhalt eines historischen Grabsteins. Ein Angebot, das einschlug wie kein anderes: Im Nu waren alle Plätze vergeben.

Ist das also die Zukunft der Bestattungskultur? Erst waren die Kirchen zuständig, dann die Behörden und nun macht sie sich auf den Weg in die Marktwirtschaft? „Das muss nicht von Nachteil sein", heißt es bei der Verbraucherberatung „Aeternitas“: Wo Wettbewerb herrsche, könnten die Angebote besser werden und die Preise sinken.

Und ganz so publikumsfeindlich geht es im Krematorium Baumschulenweg auch nicht zu. Jutta Knubbe hat hier jedenfalls schon viel erlebt: gregorianische Gesänge an Adventssonntagen, die die beeindruckende Akustik der Säulenhalle nutzen. Und natürlich die unterschiedlichsten Trauerfeiern. Mit Dudelsack, mit dem Harley-Club und Musik von AC/DC, mit Räucherstäbchen, buddhistischen Mönchen und Geldscheinverbrennungen. Zeremonien morgens um vier Uhr, wenn die Sternenkonstellation den Angehörigen eine nächtliche Einäscherung empfahl. Und einige wenige Trauernde gibt es, die darauf bestehen, ein Tabu zu brechen. Die Trennung von Trauer und Technik. Sie wagen sich bis vor die Ofenklappe.

Annette Goebel

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