zum Hauptinhalt
So stellte es sich auf einer Grafik Anfang des 20. Jahrhunderts im Department Deux-Sèvres dar

© imago/Leemage

Mathias Énards "Jahresbankett der Totengräber": Die Zeit, der Raum und die Provinz

In der Spur von Lévi-Strauss, Rabelais und den Sumpfbewohnern des Deux-Sèvres: Mathias Énards wilder, überbordender Roman "Das Jahresbankett der Totengräber".

Das Department Deux-Sèvres im Westen Frankreichs ist nicht Brasilien, und ein Fluss wie die Sèvre nicht der Amazonas; auch die Bevölkerung hier dürfte mit den indigenen Völkern des Amazonas-Gebiets kaum etwas gemein haben.

Trotzdem: Einem jungen, aufstrebenden Pariser Anthropologen darf natürlich schon einmal der Gedanke kommen, in den Spuren des Völkerkundlers und Philosophen Claude Lévi-Strauss zu wandeln, wenn er sich für seine Dissertation monatelang in die tiefste französische Provinz begibt.

David Mazon heißt dieser selbsternannte Lévi-Strauss-Nachfolger. Er ist der Ich-Erzähler und Tagebuchschreiber Mathias Énards neuem Roman „Das Jahresbankett der Totengräber“. Darin verweist Énard dann auch von Beginn an auf eins der Hauptwerke Lévi-Strauss’, „Das wilde Denken“: in seiner Widmung, mit der Überschrift des ersten Kapitels, und dann nennt Mazon auch noch seine „Ethnografen-Wohnung“ im Erdgeschoss eines Bauernhauses in dem 500-Seelendorf La Pierre-Saint-Christophe „Das wilde Denken“.

Landlust sieht anders aus

So viel wildes Denken gab es also schon lange nicht mehr in einem Roman. Nur kann davon im Fall von Énards Helden nur wenig die Rede sein. Er muss viel organisieren, unter anderem einen fahrbaren Untersatz; er muss die Sehnsucht nach der Freundin in Paris und seine Sexgelüste unter Kontrolle bekommen oder Verabredungen mit Einheimischen treffen, um überhaupt mit der Feldforschung beginnen zu können. Und dann setzt ihm noch der harte Winter auf dem Land zu.

Kurzum: Ein- und Überleben ist angesagt, nicht zuletzt mit Hilfe von Computerspielen wie Tetris. Oder Lektüren wie Victor Hugos Roman „1793“, aus dem er – soviel zum wilden Denken! – vor allem ein Rezept zitiert: „Eine Suppe aus Wasser, Öl, Brot und Salz, ein wenig Speck, ein Stück Hammelfleisch.“

Das Leben auf dem Land ist frugal und entbehrungsreich und getrunken wird nicht zu knapp im Angler-Café, der einzigen Lokalität vor Ort. Nach und nach entsteht in Mazons mitunter heiteren, selbstironischen, aber auch von viel Selbstüberhebung kündenden Einträgen ein gleichermaßen farbenfrohes wie dunkel schattiertes Bild von La Pierre-Saint-Christophe, von der Sumpflandschaft von Deux-Sèvres und von den Menschen, die hier leben.

Dass es Mathias Énard thematisch ausgerechnet in diese Umgebung verschlagen hat, überrascht zunächst. Er gilt als ausgewiesener Experte für die arabische Welt, als ein Autor, der sich literarisch und auch real lieber in der Fremde herumtreibt.

In seinem letzten, 2015 veröffentlichten Roman „Kompass“, für den er den Prix Goncourt erhielt, erzählt er von den mal mehr, mal weniger fiktiven Reisen eines Musikwissenschaftlers nach Istanbul, Damaskus, Aleppo oder Palmyra. Und in „Zone“, einem Roman aus dem Jahr 2008, ließ er einen Veteranen der Jugoslawienkriege einen fünfhundert Seiten langen Monolog halten, der aus einem einzigen Satz besteht.

Seelenwanderungen, Reinkarnationen

Doch Énard ist auch ein exzellenter Proust-Kenner und damit ein mit den Besonderheiten der französischen Provinz vertrauter Autor. Vor allem aber stammt er aus Deux-Sèvres: 1972 wurde er in Niort, dem Verwaltungssitz des Departments geboren; und neben Barcelona, wo Énard schon lange lebt, gibt der Verlag auch seine Geburtsstadt wieder als Wohnort von ihm an.

Nun könnte man nach der Lektüre der ersten hundert Seiten dieses Romans auf den Gedanken kommen, Énard wolle im Gefolge von Autoren wie Nicolas Mathieu, Annie Ernaux oder Didier Eribon seine Sicht der französischen Provinz literarisch darstellen. Doch kaum hat man es sich mit dem jungen Anthropologen fast ein wenig zu gemütlich gemacht, wechselt Énard die Perspektive.

Er übernimmt das Ganze als allwissender Erzähler und beschäftigt sich von nun an viel eingehender als seine vermeintliche Hauptfigur mit den Bewohnern des Dorfes, ihrem Leben, ihrer Vergangenheit, ihren Schrullen. Und mehr noch: Er lässt sie vielfach ihre Gestalt wechseln und Wiedergeburtsreisen antreten, in lange zurückliegende Jahrhunderte.

Der französische Schriftsteller Mathias Énard, 1972 in Niort geboren.
Der französische Schriftsteller Mathias Énard, 1972 in Niort geboren.

© Pierre Marquès/Hanser Verlag

Die Seele des Dorfpfarrers Largeau landet in einem Wildschwein, der Urgroßvater von Davids Freundin im Ort, Lucie, findet sich im 16. Jahrhundert unter der Herrschaft Heinrich II wieder, und eine Wölfin wird erst Brunnenbauer, dann Obergefreiter, schließlich Schankwirtin. Denn, so weiß es der Erzähler, „das Schicksal, wo alles miteinander verbunden ist, in einem riesigen Geflecht unsichtbarer Fäden, kennt keine Zeit.“

Obwohl Énard der Übersicht und Lesbarkeit halber schon häufig die jüngere Gegenwart seines Dorfes in den Blick nimmt, durchmisst er einiges an Zeiten und Räumen: mit „Chansons“ als Zwischenspielen, Volks- und Kinderliedern wie „Aux marches du palais“ oder „Brave marin revient de guerre“, die er in Form von Kurzgeschichten aufbereitet hat.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können]

Oder mit dem titelgebenden, im Zentrum des Roman stehenden, wahrlich opulenten, großartig inszenierten Jahresbankett der Totengräber. Auf dem treffen sich 99 dieser ehrenwerten Zunft, essen (eher: fressen), trinken (eher: saufen), diskutieren die Aufnahme von Totengräberinnen und erzählen sich Geschichten, angelehnt an Rabelais' „Gargantua und Pantagruel“.

Dieser aus fünf Bänden bestehende, ausufernde, humoristisch-satirische Ritterroman stammt aus dem 16. Jahrhundert und gilt als früher Klassiker der europäischen Literatur.

Auch Énards Roman wird immer barocker, wilder, überschäumender, franst hier aus, nimmt sich dort nicht immer ganz ernst, überdies getragen von langen, mitunter tatsächlich an Proust erinnernden Satzkaskaden und haufenweise literarischen Referenzen.

Mag der junge Anthropologe ein Spaßmacher und Aufschneider sein und sich sein großes Vorbild nur vorstellen können, wie es „über die Dessous seiner Frau“ spricht oder als „Champion in Videospielen“ – Énard selbst hat seinem Roman neben Rabelais’ „Gargantua und Pantagruel“ gerade auch Lévi-Strauss’ „Wildes Denken“ als Blaupause unterlegt.

Am Ende geht es um die Rettung des Planeten

Énard porträtiert eine prähistorisch anmutende, von der Moderne vergessene Gesellschaft, die sich an Werten wie Kontinuität, Dauer und Ordnung orientiert. Halt bekommt sie durch die Natur, nur dass diese halt durch den Klimawandel vielerlei Zerstörungen ausgesetzt ist. So wie die von Lévi-Strauss besuchten Völker ihr Leben unter den Prämissen von Kontinuität und Anciennität geführt haben, mitunter noch führen, so scheint sich daran auch die Dorfbevölkerung von La Pierre-Saint Christophe zu versuchen. Dass die Seelen wandern, Reinkarnationen gang und gäbe sind, passt überdies perfekt ins europäisch-historische Wimmelbild dieses Romans.

Allerdings braucht man, gerade nach dem so entspannten, leichten Einstieg mit Mazons Tagebuch, Ausdauer für die Lektüre; den festen Vorsatz, sich auf die erzählerischen Turbulenzen einzulassen, gerade wenn der Zeitpfeil in die Vergangenheit zeigt und nicht jede erzählte Geschichten ein einziges Vergnügen ist.

Doch erschließt sich, wer weiß das nicht?, auch ein großformatiges Renaissance- oder Barock-Gemälde erst nach langen, mehrmaligem Betrachtungen in seiner ganzen Fülle. „Das Jahresbankett der Totengräber“ ist kein Schmöker, sondern ein wuchtiges Kunstwerk eigenen Ranges.

Das Ende nimmt sich leider sehr profan aus: Mazon nimmt im letzten Kapitel das Tagebuchschreiben wieder auf, schwört seinem Berufsziel ab, wird Öko-Bauer und verlegt sich auf die „Rettung des Planeten“. Nach der poetischen Raserei zuvor wirkt das ziemlich ernüchternd. Trotzdem: Solange Literatur wie diese geschrieben wird, gibt es noch Hoffnung.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false