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Das ist nur ein Film: Martin Luther (Devid Striesow) und Katharina von Bora (Karoline Schuch) bei Dreharbeiten zu "Katharina Luther".

© dpa

Martin Luther vor 500 Jahren in Worms: Wenn Standhaftigkeit zur bloßen Pose wird

Vor dem Reichstag in Worms soll Martin Luther seine revolutionären Thesen widerrufen. Er weigert sich. Seitdem hat die Berufung auf das Gewissen Konjunktur.

Da steht er nun und kann nicht anders. David gegen Goliath. Allein gegen die Obrigkeit, die Macht, den Papst, den Kaiser. Ohne Angst und Furcht, unerschrocken, sich seiner selbst gewiss. „Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir, Amen.“ Das sind die legendären Schlusssätze der Verteidigungsrede, die Martin Luther vor 500 Jahren, am 18. April 1521, auf dem Reichstag zu Worms sprach. Der Augustinermönch weigert sich, seine revolutionären theologischen Thesen zu widerrufen, darunter jene, die er vier Jahre zuvor an die Schlosskirche in Wittenberg geschlagen hatte, um gegen den Ablasshandel der Kirche zu protestieren.

Sie hallen nach, diese Sätze. Das Echo, das sie auslösen, verstärken sie. An diesem Freitag beginnen in Worms die Feierlichkeiten rund um das große Jubiläumsjahr. An dem Festakt nimmt auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier teil. Dem „Geheimnis von Luthers Wagemut“ spürt eine Multimedia-Inszenierung auf dem Wormser Marktplatz nach. An der Dreifaltigkeitskirche soll die größte Leinwand Deutschlands hängen. Luther in Worms – das liefert jede Menge Stoff für ein spannendes Historien-Drama.

Parallelen zu Stauffenberg und Bonhoeffer

Der unbeugsame Mönch sei standhaft gewesen, habe Haltung bewiesen, Zivilcourage gezeigt, wird es im ehrenden Gedenken heißen. Womöglich werden Parallelen gezogen – zum Widerstand gegen Hitler, zur Bekennenden Kirche, zu Claus Schenk Graf von Stauffenberg („Ich diene meinem Land als Verräter“), zu Dietrich Bonhoeffer („dem Rad in die Speichen greifen“), zu Martin Luther King. Die Wirkungsgeschichte des Worms-Mythos ist wahrlich umfangreich.

Eine Inschrift mit dem Satz "Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir! Amen!" am Luther-Denkmal in Worms.
Eine Inschrift mit dem Satz "Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir! Amen!" am Luther-Denkmal in Worms.

© picture alliance / Uwe Anspach/dpa

Deutsche Patrioten, die im 19. Jahrhundert gegen die Fremdherrschaft des Papstes rebellierten, beriefen sich ebenso auf den Reformator wie Nationalisten, die nach dem Ersten Weltkrieg gegen das Versailler „Schanddiktat“ polemisierten. Im „Deutschen Herbst“ 1977 beendete Bundeskanzler Helmut Schmidt seine Regierungserklärung zum RAF-Terrorismus ausnahmsweise mit den Worten: „Gott helfe uns!“ Deutsche Unternehmer wiederum loben an Luther, Energien und Kreativität freigesetzt zu haben, was angeblich dessen Nähe zur sozialen Marktwirtschaft belege. „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders“: Wer sich daraus bedienen wollte, bediente sich.

Papst Leo X. hatte den Kirchenbann über Luther verhängt

Die Stadt Worms, vor 500 Jahren. Es herrscht Rummel, Trubel, Gedränge. Die Sitten locker, die Stimmung in der Bevölkerung pro-lutherisch. Kaiser Karl V., damals gerade 21 Jahre alt, hatte zum ersten Reichstag nach seiner Wahl und Krönung eingeladen. Von Ende Januar bis Ende Mai beherbergen knapp 7000 Einwohner weit mehr als 10.000 Gäste, darunter 80 Fürsten, 130 Grafen, diverse Botschafter mitsamt Gefolge – Geistliche, Ritter, Knechte. Die Nahrungsmittel werden knapp und daher teuer.
Unmittelbar zuvor, am 3. Januar 1521, hatte Papst Leo X. den Kirchenbann über Luther verhängt.

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Denn der Zwist zwischen Luther und der Kirche war eskaliert. Anstoß erregten dessen Thesen gegen den Ablasshandel, seine Verteidigung des böhmischen Reformators Jan Hus, der 1415 in Konstanz als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden war, seine Hartnäckigkeit in den Leipziger Disputationen mit Johannes Eck. Und schließlich die drei provokativen Schriften aus dem Jahr 1520 – „An den christlichen Adel deutscher Nation und von des christlichen Standes Besserung“, „Von der Freiheit eines Christenmenschen“, „Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche“.

„Auch Konzile können irren“

Luther stellt zentrale Elemente der kirchlichen Machtausübung in Frage, akzeptiert als Bezugsrahmen des Glaubens und der Theologie einzig und allein die Bibel („sola scriptura“), gibt dem individuellen, gleichwohl gottgebundenen Gewissen Vorrang vor allen geistlichen Institutionen, vor Päpsten, Kardinälen und Bischöfen. „Auch Konzile können irren.“ Und schließlich: das Priestertum aller Gläubigen, der Gedanke, dass jeder und jede allein durch die Taufe in der Lage ist, die frohe Botschaft zu hören, zu verstehen und weiterzugeben. Das trifft den Klerus ins Mark.
Im November 1520 beginnt der päpstliche Nuntius, in Köln und Mainz die Schriften Luthers zu verbrennen. Der revanchiert sich einen Monat später damit, nun seinerseits die „gottlosen Bücher des päpstlichen Rechts und der scholastischen Theologie“ (Philipp Melanchthon) vor den Toren Wittenbergs öffentlich zu verbrennen. Auch die Bannandrohungsbulle gegen ihn wirft Luther ins Feuer.
Die nächste Sanktions- und Disziplinierungsmaßnahme wäre nach dem Kirchenbann die sofortige Reichsacht gewesen. Luthers Schriften wären verboten, niemand dürfte ihn beherbergen, jeder müsste ihn an Rom ausliefern. Doch der Kaiser zögert, Luther wird immer populärer, Stände und Reichsfürsten teilen dessen Kirchenkritik. Der päpstliche Gesandte schickt eine Depesche nach Rom und klagt: „Neunzig Prozent der Deutschen erhebt das Feldgeschrei ,Luther’, der Rest ruft mindestens ,Tod dem römischen Hof’.“

Zwei Wochen dauert die Kutschfahrt von Wittenberg nach Worms

Auf Drängen der Fürsten lädt Kaiser Karl V. den Wittenberger Augustinermönch am 6. März 1521 nach Worms vor und sichert ihm freies Geleit zu. Doch warum? Soll Luther sich erklären dürfen, seine Thesen gar rechtfertigen? Ist es ein Verhör? Aus Sicht der Kirche konnte es nur ein Ziel geben – den bedingungslosen Widerruf. Eine inhaltliche Debatte würde die Entscheidung des Papstes ins Lächerliche ziehen. Kaiser Karl V. teilt diese Auffassung, lässt Luther aber über den Charakter der Vorladung im Dunkeln.

Ein Relief aus Bronze des Reformators Martin Luther steht in Worms (Rheinland-Pfalz) am Luther-Denkmal im Heylshofpark.
Ein Relief aus Bronze des Reformators Martin Luther steht in Worms (Rheinland-Pfalz) am Luther-Denkmal im Heylshofpark.

© picture alliance / Uwe Anspach/dpa

Zwei Wochen dauert die Kutschfahrt von Wittenberg nach Worms. Luther macht Station in Erfurt, wo er in der völlig überfüllten Augustinerkirche predigt, in Gotha, Eisenach und Frankfurt am Main. Dort notiert er in einem Brief: „Aber Christus lebt! und wir wollen nach Worms kommen allen Pforten der Hölle zu Trutz.“ Am 16. April 1521 trifft er dort ein und wird von Trompetern und 2000 begeisterten Anhängern empfangen. Was Luther zu der Zeit nicht weiß: Eine Disputation mit ihm ist nicht geplant. Er soll seine Thesen zurücknehmen, sonst nichts. Am Folgetag wird der in seine Mönchskutte gekleidete Luther von seinem Zimmer im Johanniterhof abgeholt. Das Verhör findet im Bischofshof statt. Luther glaubt immer noch, eine akademische Auseinandersetzung über seine Thesen führen zu können. Vor Ort erfährt er dann, dass er lediglich zwei Fragen beantworten soll: Hat er die dort ausgelegten Schriften, die unter seinem Namen erschienen sind, selbst verfasst? Ist er bereit, die darin verbreiteten Thesen zu widerrufen?

Es ist heiß, Luther schwitzt

Die erste Frage bejaht Luther, bei der zweiten bittet der Überrumpelte um Bedenkzeit. Die Sache betreffe den Glauben, sagt er, das Seelenheil und Gottes Wort. Deshalb sei es gefährlich, sich unbedacht zu äußern. Der Kaiser und die Fürsten beraten sich und gewähren einen Aufschub von einem Tag. Allerdings dürfe er keine Notizen mitbringen, sondern müsse frei reden.
So geschieht es. Am 18. April wird Luther gegen 16 Uhr erneut abgeholt. Diesmal muss wegen des Andrangs ein größerer Saal im Bischofshof gewählt werden. Doch auch der platzt bald aus allen Nähten. Fackeln beleuchten die Szene, es ist heiß, Luther schwitzt. Abermals wird der Abtrünnige gefragt, ob er widerrufen wolle. Daraufhin fordert er seine Gegner auf, ihn durch Belege aus der Bibel zu widerlegen. Die indes lassen sich auf keine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Vorgeladenen ein, sondern wiederholen ihre Frage.
Luther sagt, weder durch Zeugnisse der Schrift noch durch klare Vernunftgründe sei er von der Falschheit seiner Thesen überzeugt worden. „Und so lange mein Gewissen durch die Worte Gottes gefangen ist, kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun, weder sicher noch heilsam ist.“ Der Zusatz – „Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir, Amen“ – hat Luther offenbar in Deutsch an das nach Wittenberg gesandte lateinische Manuskript angefügt. Ob er seine Rede in Worms damit wirklich beendete, ist unklar.
Luther beruft sich auf die Vernunft, die Bibel und sein Gewissen. Weg mit Dogma, Zwang und Autorität!

Für Hitler war das Gewissen eine „Verstümmelung des menschlichen Lebens“

Das wirkt auf den ersten Blick wie ein Plädoyer für Autonomie, Aufklärung, Freiheit, Selbstbestimmung. Doch wer Luther durch die Brille moderner Subjektivität beurteilt, läuft Gefahr, ihn misszuverstehen. Die Stimme des Gewissens bildet sich bei Luther nie in einem absoluten Sinne autonom, sondern ist immer an Gottes Wort gebunden und erfährt von dort eine Art Rückkopplung.
Das haben viele Aufklärer, die Luther lange Zeit für ihre Ideale vereinnahmten, nicht sehen wollen. Infolgedessen wurde insbesondere das Gewissen als unhinterfragbare Entscheidungsinstanz pathetisch überhöht. Nach dem Motto: Wer sich auf sein Gewissen beruft, kann ja nur im Recht sein.
Ohne Zweifel kann das Gewissen eine Widerstandskraft sein. Tyrannen haben es gehasst, weil es ihnen die Kontrolle über ihre Untertanen erschwerte. Adolf Hitler nannte das Gewissen eine „Verstümmelung des menschlichen Lebens“, von der der Mensch befreit werden müsse. Entsprechend wurde der Widerstand gegen Hitler als „Aufstand des Gewissens“ charakterisiert.
Ein Gewissen kann rein sein, jemanden plagen oder an jemandem nagen, es gibt den Gewissensbiss und die Gewissensnot. Es wirkt wie eine innere Stimme, eine Kontrollinstanz, hat Zugang zu geheimen Gedanken und Handlungsmotiven. Haben wir ein Gewissen oder hat es uns? Das ist manchmal schwer zu sagen. In Artikel 38 des Grundgesetzes steht, dass Abgeordnete nicht an Aufträge und Weisungen gebunden, sondern nur ihrem Gewissen unterworfen sind. Das Wort „unterworfen“ macht die Parlamentarier eigentümlich willenlos. Als es noch die Wehrpflicht gab, konnten junge Männer sie aus Gewissensgründen verweigern.

Wer als Opfer posiert, immunisiert sich gegen Kritik

Luther in Worms: Das erinnert in seiner Dramaturgie an Jesus in Jerusalem, kurz vor der Kreuzigung. Hier wie dort die revolutionäre Lehre, der herausgeforderte Klerus, das Verhör. Es erinnert auch an Moses und Noah – allein gegen alle, die feindliche Übermacht, der Gehorsam gegenüber Gott, das Wort als einzige Waffe. Der Mythos von Worms entspricht einem urbiblischen Topos. Auch das hat ihm prägendes Gewicht verliehen. Allerdings ist dieser Topos auch verführerisch. Wer als Opfer posiert und sich zusätzlich auf sein Gewissen beruft, immunisiert sich gegen Kritik. Jeder Einwand kann als Beleg für die Verfolgungsthese interpretiert werden. Je härter die Attacke, desto gefestigter der Nimbus. Thilo Sarrazin hat das praktiziert und Donald Trump. Die „Querdenker“ haben es ebenfalls gelernt. Die „feindliche Macht“, das ist dann ein „Parteienkartell“, der Öffentlich-Rechtliche Rundfunk, das Establishment, die Elite.

"Sonst hätte ja die ganze Christenheit heute und immer geirrt“

Der Einwand, den Kaiser Karl V. am folgenden Tag gegen Luther formulierte, ist demokratietheoretisch durchaus nachvollziehbar: „Es ist sicher, dass ein einzelner Mönch in seiner Meinung irrt, wenn diese gegen die der ganzen Christenheit, wie sie seit mehr als tausend Jahren und heute gelehrt wird, steht, denn sonst hätte ja die ganze Christenheit heute und immer geirrt.“ Die Weisheit der vielen – soll sie gar nichts wert sein? Vorsicht also vor der bloßen Berufung auf das Gewissen! Vorsicht vor jenen, die sich als David gegen Goliath inszenieren! Die Rezeptionsgeschichte von Luther in Worms lehrt Skepsis statt ungebrochener Begeisterung. Die Tugend der Standhaftigkeit ist zu kostbar, um sie jenen zu überlassen, die sich bloß in ihre Pose schmeißen. 500 Jahre später muss Martin Luther nicht nur gewürdigt, sondern auch gegen die Anmaßung verteidigt werden, seinen Habitus abkupfern zu wollen, ohne seine Lehre zu kennen.

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