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Wer sind wir, wer waren wir? Die Damen aus "Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter".

© Walter Mair

Marthaler eröffnet die Spielzeit an der Volksbühne: Macken ohne Mehl

Die Abschiedssaison an der Volksbühne beginnt mit Christoph Marthalers „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“.

Das größte Kunstwerk ist der Mensch. Aber so fürchterlich fragil, wechselhaft und unberechenbar. Schauspieler! Musiker! Tänzer! Hältste nicht aus ... Aber bei Christoph Marthaler war es schon immer anders. Seine Typen sind sediert, spielen auf Autopilot und rasten auch einmal sehr heftig aus, um sogleich wieder in jenen Wachschlaf zurückzufallen, der ihren Witz und ihren Schmerz umhüllt.

Marthalers Menschen sind ein Gegenbild des getriebenen, genervten großstädtischen Zuschauers. Und man erlebt ja jetzt, wie die Stadt sich giftig atmosphärisch auflädt, die Spannungen zunehmen, auch im Kulturbetrieb.

Wie gut da ein Marthaler tut! Vor 23 Jahren, so lang ist es her, kam „Murx den Europäer“ an der Volksbühne auf diese Welt, es war eine Initialzündung. Wobei bei Christoph Marthaler und seiner Bühnenbildnerin Anna Viebrock ja nichts explodiert, sondern die Darbietung des allgemeinen und speziellen Wahnsinns immer nur sehr langsam implodiert.

Einer der besten Marthaler-Abende

Die Marthaler-Family darf bei Castorfs Abschied von der Volksbühne nicht fehlen. Sie macht den Auftakt zur allerletzten Spielzeit mit einem Stück, das mit einem alten Botho-Strauß-Titel spielt, hier also „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter.“ Es ist einer der besten Marthaler-Abende der letzten Jahre geworden. Feiner Rhythmus, alles bestens abgestimmt und balanciert. Fast schon altersmilde. Melancholisch und liebevoll in seiner Bosheit, wenn überhaupt.

Im grauen Hausmeisterkittel, auf einem nachher natürlich häufig benutzten und spielerisch umfunktionierten Wagen, schiebt Marc Bodnar stoisch Kisten in den hohen Raum hinein, der ein Museumssaal sein könnte, mit Oberlicht und weißen Wänden. Wie immer auch bei Anna Viebrock eine Baustelle, mit einem Fahrstuhl, der ein Eigenleben führt. Links und rechts stehen Klaviere und eine Orgel – und es braucht seine Zeit, bis die Bühne sich gefüllt hat mit den Künstlern. Mit den Skulpturen, die den Kisten und Kartons entsteigen. Der Marthaler-Akteur als Standbild einer Ausstellung, das ist noch einmal eine Weiterentwicklung oder Regression ins Unbewegte.

Schon wie sie sich aus den Behältnissen und Folien schälen, leicht verstört, unwillig, ist eine Schau. Wie Olivia Grigolli sich hineinverbiegt in diesen kleinen Pappkarton, muss man gesehen haben. Wie Irm Hermann indigniert ihrem Kunsttransport entsteigt. Und wie Altea Garrido durch ein winziges Fenster akrobatisch gleich wieder verschwindet. Wie Ulrich Voß als Gespenst durch den Raum schleicht und die Zeit anhält.

Sie versuchen es auch mal mit Ballett - Spitze!

Willkommen in der Anstalt für verirrte und verwirrte Musiker. Die aber sehr genau wissen, wie man sich in Szene setzt. Die Playlist ist anspruchsvoll. Bach, Beethoven, Mozart, Schubert, Verdi, ein paar alte Schlager, Volksliedhaftes. „Brüder zur Sonne, zur Freiheit“ kommt den singenden, brummenden Skulpturen kaum über die Lippen. Dafür schmettert Sophie Rois – Starauftritt mit Sonnenbrille und federndem Gang, alles hält die Luft an – Italienisches. Sie ist oder war mal die Diva in diesem Ensemble der Untoten.

Womit vertreiben sie sich die zweieinviertel Stunden? Stehen rum, gehen ab, treten auf, singen die Wände an, formieren sich auf dem Wagen zu einer Art Laookon-Gruppe, versuchen sich in hinreißend ungeschickten staatsballettösen Figuren – eine wunderbare Einlage! Ueli Jaeggi als Spitzentänzer! Jürg Kienberger sitzt mit glasigem Blick und haut in die Tasten. Besonders bei ihm ist es ja unvermeidlich, dass man an viele andere Marthaler-Abende denkt und das kollektive Erinnern im Zuschauerraum geradezu körperlich spürt.

Zart gesponnene Choreografie des Nichtstuns

Gesprochen wird kaum. Kann sein, dass mal einer sagt „Vielleicht“ oder eine feststellt „Ein Äderchen ist geplatzt“ usw. Sie existieren. Rasieren sich die Beine oder bohren ein Klavier auf, in dem eine kaputte Geige steckt und ein Würstchen mit Senf. Musikerhumor. In dieser zart gesponnenen Choreografie des eigentlichen Nichtstuns und der stilisierten Langeweile hob sich anfangs die Zeit als solche auf und nun auch so viel Volksbühnengeschichte. Ohne Groll.

Man muss dieses seltsam insiderische und dann einfach auch nur unterhaltsame Stück vom Ende her betrachten. Ueli Jaeggi fragt: „Wo sind wir stehen geblieben?“ Und die Truppe blickt nach unten und sucht den Boden ab. Ja, wo? Werden sie jetzt ein für allemal weggeschafft von dieser Bühne? Ist das die in all der Somnambulität versteckte Botschaft?

Auf dem Klavier wird ein Lied angespielt, das jeder kennt. Die Endlosschleife des Volksbühnentelefons. Die hohe, höchste Hymne des „Murx“. Zu befürchten ist jetzt eine „Danke“-Endlos- Version. Doch Marthaler und sein Ensemble finden eine überraschende Variante. Damit die Zeit nicht stehen bleibt. Wie sie das machen, muss man selbst sehen und hören.

Nächste Vorstellungen am 24., 25. und 27. September und am 2. und 5. Oktober

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