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Sie verteidigt jede der rassistischen Äußerungen ihres Vaters: Marine Le Pen.

© dpa

Marine Le Pen und die französischen Rechten: Des Teufels Generalin

Kranker Nachbar Frankreich: Marine Le Pen hat den Rechtsextremismus gesellschaftsfähig gemacht - und die Angst geht um in unserem Nachbarland.

Die Angst geht um in Frankreich. Von einem Erdbeben, einem Tsunami, einem Vulkanausbruch schrieben die Zeitungen nach der Europawahl. Wie konnte es sein, dass im Lande der Menschenrechte, in dem seit 200 Jahren über jedem Rathaus die Worte „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ eingemeißelt sind, der Front National des Demagogen Jean-Marie Le Pen, der „die Ungleichheit der Rassen“ propagiert, 25 Prozent der französischen Wähler auf seine Seite gezogen hat? Wie konnte es sein, dass seine Tochter Marine Le Pen, eine Todfeindin der Europäischen Union, über Nacht zu einem Star der Medien wurde? Was ist mit Frankreich los? Und wieso will die Tochter die von ihrem Vater gegründete Partei „dediabolisieren“, was doch heißt: den Teufel austreiben?

Unterdessen ist Jean-Marie Le Pen weit davon entfernt, vertrieben zu werden, er ist Ehrenpräsident der Partei, und seine Tochter verteidigt jeden seiner rassistischen Ausfälle. Seine jüngst aus Marseille überlieferte Bemerkung, „Monsignore Ebola“ könne „das Problem der Überbevölkerung Afrikas in drei Monaten regeln“, wurde von ihr als „Sorge“ um die Afrikaner gedeutet. Sorge? Zynismus pur. Und seine vor einer Woche an den jüdischen Sänger Patrick Bruel gerichtete Drohung, aus ihm „eine Ofenladung zu machen“, nannte sie „missinterpretiert“ – und „politisch falsch“. Nicht „moralisch“ falsch wohlgemerkt. Der Alte hatte schon die Gaskammern höhnisch „ein Detail des Zweiten Weltkriegs“ genannt. Er war rechtskräftig verurteilt worden, aber andererseits muss er dafür sorgen, dass der harte Kern des FN, für den seine taktisch agierende Tochter zu lau ist, bei der Stange bleibt.

Ein Geschwader von Teufeln

Es gäbe in der Tat, den Front National betreffend, ein Geschwader von Teufeln zu exorzieren. Unter den ersten Mitgliedern der von Jean-Marie Le Pen mitgegründeten Partei befanden sich Offiziere der französischen SS-Division Charlemagne, Veteranen der berüchtigten Milice, einer Hilfsorganisation der Gestapo, die sich bei der Judenverfolgung und der Ermordung von Partisanen hervorgetan hatte, sowie der OAS (Organisation armée secrète), einer politisch-militärischen Terrororganisation, die in Frankreich und Nordafrika Politiker, Journalisten und sonstige Befürworter der Dekolonisierung Algeriens ermordete.

Der Front National war bei seiner Gründung am 12. Oktober 1972 eine Versammlung von Fememördern und faschistischen Gangstern. Und dieser Vereinigung verpassten die Gründungsmitglieder den Namen einer militärischen Kampforganisation: Front National – Nationale Front! Eine Kriegserklärung! Marine Le Pen versuchte, ein freundlicheres Wort zu finden, sie nannte die Bewegung während der Präsidentenwahlen 2012 „Bleu Marine“ – Marineblau, um den Rußgeruch des alten Namens auszutreiben. Aber der Vater, der seiner Tochter nach vierzig Jahren Alleinherrschaft am 15. Januar 2011 das Zepter in die Hand gab und die rechtsextremistische Partei quasi in eine Erbmonarchie verwandelte, widersetzte sich hartnäckig jedem Versuch, den Taufnamen seiner Partei zu modifizieren.

Marine Le Pen hegt grenzenlose Bewunderung für Wladimir Putin

Eine Institution wird so nachhaltig von den Spuren ihrer Geburt geprägt, dass sie sich schwerlich davon erholt. Im Falle des FN ist die politische und familiäre Belastung so groß, dass man sich nicht wundert, wenn Marine Le Pen, wird sie von Journalisten ein wenig in die Enge getrieben, sofort ins antikommunistische und rassistische Wahnsystem ihres Vaters ausbüxt. „99 Prozent der französischen Journalisten sind links“, wagte sie den „Spiegel“-Reportern zu sagen, die auf so viel Frechheit keine Antwort wussten, und in „Cicero“ behauptete sie, wer aus dem Pariser Viertel Barbès lebend zurückkomme, könne von Glück reden. Barbès ist eines der belebtesten und sympathischsten Viertel von Paris, in dem sehr viele Afrikaner und Araber leben, von denen sie sich in ihrer Luxusvilla von Saint-Cloud offenbar bedroht fühlt. Auch hegt sie eine grenzenlose Bewunderung für Wladimir Putin, der „genau wie wir die Werte der europäischen Zivilisation und die Erbschaft des Christentums“ verteidige, sagte sie dem „Kurier“. Die Nächstenliebe wird sie damit kaum gemeint haben.

Ihr Programm „Les Français d’abord“ („Franzosen zuerst“) solle weder als rassistisch noch als xenophob verstanden werden, da sie „gegen die Immigration als solche und nicht gegen den Immigranten als Person“ kämpfe. Die Forderungen: drastische Reduzierung der Einwanderungsquote von 200 000 auf 10 000 Immigranten im Jahr; sofortiger Stopp der Familienzusammenführungen (völkerrechtswidrig!); Kündigung der Vereinbarungen von Schengen und Ende der freien Zirkulation in Europa; Bevorzugung der französischen Staatsbürger bei der Zuteilung von Wohnungen sowie bei der Berufswahl, es sei denn, das Unternehmen könne zweifelsfrei beweisen, dass der Ausländer qualifizierter sei – kurz: eine mildere Ausgabe der Nürnberger Gesetze, so dass sich die Frage nach dem ideologischen Bruch mit dem Vater erübrigt. Sie denken ähnlich, aber reden mit verschiedenen Zungen.

Wirtschaft interessiert Marine Le Pen nicht

Kundgebung der Front National 2012.
Kundgebung der Front National 2012.

© Reuters

Nur in einer Hinsicht unterscheidet sich Marine Le Pen von ihrem Vater – in ihrem Hang zum Protektionismus. Protektionismus ist der politische Ausdruck der Angst. Er ist das Zentrum ihres Programms, das in Frankreich auf so großen Zuspruch trifft. Mit der Forderung nach Schutzzöllen und „nationaler Präferenz“ köderte Marine Le Pen alle wirtschaftlich Bedrohten, die Arbeitslosen, die zu 37 Prozent, die Arbeiter, die zu 43 Prozent, die Angestellten, die zu 38 Prozent, und die Jugendlichen unter 35 Jahren, die zu 30 Prozent Front National wählten – unglaubliche Zahlen in Wählergruppen, die früher die Sozialisten oder die Kommunisten wählten und jetzt zu denen überlaufen, die sich „Patrioten“ nennen. Frankreich ist desorientiert. Daher die Versuchung, Sündenböcke zu suchen und gleichzeitig von einem großen Asterixdorf zu träumen, in dem die Gallier friedlich zusammenleben, Wildschweine schlachten und die Palisaden hochziehen. Nur: Wie soll sich das vom FN so gern zitierte „einfache Volk“ über Wasser halten, wenn Schutzzölle und die geplante Rückkehr zum inflationären Franc das Leben noch weiter verteuern?

Die wirtschaftlichen Forderungen sind Maskerade

In Wahrheit hat der FN keine wirtschaftlichen Ziele, sondern ideologische. Die wirtschaftlichen Forderungen sind Maskerade. Wirtschaft interessiert Marine Le Pen nicht. Der Front National hegt den postkolonialen Traum, Frankreich zur alten Größe zurückzuführen. Sie glaubt immer noch, Frankreich sei eine Weltmacht – das „Herz Europas“, wie sie in einem Interview sagte. Das Ziel des Front National ist, Frankreich zum Führer der blockfreien Staaten zu machen. Aber die Zeit ist keine Maschine, die zurückläuft, der Traum vom alten Glanz ist Illusion.

Ich lebe seit vielen Jahren in Frankreich und warte immer noch auf einen Politiker, der die Dinge beim Namen nennt. Ob links oder rechts, man sucht die Schuld für die Misere bei den andern, den Immigranten, den Sozialleistungen, den faulen Arbeitslosen, bei den Roma, bei China, beim zu starken Euro, bei den expansiven Deutschen, den arroganten Amerikanern oder auch den bankrotten Griechen.

Wahr dagegen ist: Die Krise in Frankreich ist strukturell. Das Land hat den Sprung in die Moderne verpasst und besitzt außer seinem Hochgeschwindigkeitszug TGV, seinen Atomkraftwerken, die es verzweifelt zu verkaufen sucht, und dem Airbus, den es mit Deutschland teilt, nur noch alte Industrien. Es hat die digitale Evolution total verschlafen und produziert weder Fernsehapparate, Computer noch Handys, nicht einmal Kühlschränke – geschweige denn Kameras, um darüber einen Film zu drehen. Frankreich ist ein deindustrialisiertes Land.

Ein eigentümlicher Zerfall des sozialen Gewebes

Unfähig, eine Lösung zu finden, senkt die Regierung die Steuern hier und erhöht sie dort, spart an den Sozialleistungen, storniert die Gehaltserhöhungen für Beamte, ja mischt sich in Übernahmeverhandlungen von maroden Großunternehmen ein, weil man in Frankreich seit Ludwig XIV. glaubt, der Staat könne alles richten – und dennoch wächst das Staatsdefizit und verschlimmert sich die Außenhandelsbilanz, erhöht sich die Zahl der Bankrotte und steigt unaufhaltsam die Arbeitslosigkeit.

In Frankreich beobachte ich einen eigentümlichen Zerfall des sozialen Gewebes, eine Art Erschöpfung der Bevölkerung, der die Politiker seit Jahren außer hohlen Reden über vergangene Größe nicht einen einzigen konkreten Zukunftsplan anbieten. Nichts wird gegen die Versteinerung der Gesellschaft unternommen, in der die Jugendarbeitslosigkeit explodiert und alle Zugänge zu sozialen Positionen von Seilschaften versperrt sind, so dass man sogar im Dorf Beziehungen haben muss, um Putzfrau im Rathaus zu werden. Man müsste vor allem die Refeudalisierung der Gesellschaft aufhalten, damit Einkommensunterschiede, die die Mittelklassen wegfressen, das Volk nicht weiter in zwei antagonistische Teile zerfallen lassen. Man müsste Frankreich, damit es aus seiner Katatonie erwacht, von unten bis oben reformieren. Man müsste es aus der Erinnerung an die glorreiche Vergangenheit und darüber hinaus das ganze Begriffsinstrumentarium der Politiker in die Gegenwart katapultieren. Man müsste …

Sonst geschieht Folgendes: Marine Le Pen kommt bei den Präsidentschaftswahlen 2017 in die zweite Runde und gewinnt die Wahlen 2022. Sie löst die Nationalversammlung auf und überzeugt die Franzosen von der Notwendigkeit, ihr eine parlamentarische Mehrheit zu verschaffen. Sie setzt alle ihre Drohungen in die Tat um. Sie stoppt die Einwanderung und befiehlt der Kriegsmarine, alle eventuell auf Frankreich zusteuernden Flüchtlingsboote aufs Meer zurückzutreiben. Sie untersagt den Muslimen den Bau von Moscheen und verbietet ihnen zugleich, auf den Straßen zu beten, um sie aus Frankreich wegzuekeln. Sie führt die Todesstrafe ein.

Und weiter: Sie tauscht alle französischen Botschafter, Polizeipräfekten, Generäle sowie die obersten Richter und Staatsanwälte aus. Auf all diesen Posten sitzen von nun an Leute des FN. Sie hat unbeschränkte Macht. Sie kann über Auslandseinsätze der Armee entscheiden. Sie kann auf den Atomknopf drücken. Sie kann Aufstände in Afrika und in den Banlieues niederschlagen. Sie kann den Ausnahmezustand ausrufen. Sie kann tun, was sie will, da ihr die Verfassung alles erlaubt. Die monarchische Struktur der Fünften Republik gibt ihr freie Hand. All dies ist verfassungskonform in der „republikanischen Monarchie“ des General de Gaulle, der die demokratischen Parteien nicht riechen konnte und deshalb einen gewählten Alleinherrscher an die Spitze des Staates stellte. Sein Traum würde endlich wahr – als Albtraum. Frankreich würde auf legalem Wege rechtsextrem.

Benjamin Korn, geboren 1946 als Sohn polnischer Juden, hat an zahlreichen deutschen Theatern inszeniert und lebt in Frankreich. Für seine Essay-Sammlung „Kunst, Macht und Moral“, erhielt er 1998 den Clemens-Brentano-Preis.

Benjamin Korn

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