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Die französische Schriftstellerin Marie NDiaye

© picture alliance / dpa

Marie NDiayes Roman "Die Rache ist mein": Der diskrete Charme der Eigenbrötlerin

Marie NDiayes geheimnisvoller und schön labyrinthischer Psychoroman „Die Rache ist mein“.

Es gibt keine Sicherheiten in diesem verstörenden Roman. Keine klaren Motive, warum wer wie agiert, keine eindeutigen psychologischen Herleitungen. Fast alle Figuren umgibt eine seltsame Fremdheit, eine Unkalkulierbarkeit, die den suggestiven Reiz des neuen Romans von Marie NDiaye ausmacht.

„Die Rache ist mein“ lautet der Titel, im französischen Original ist er ähnlich plakativ. Doch diese Geschichte ist ein Psychothriller voller Fragezeichen, in dem es, anders als im klassischen Krimi, keine Auflösung gibt. In Frankreich wurde „Die Rache ist mein“ beim Erscheinen Anfang des Jahres stürmisch gefeiert.

Die Autorin, 1967 geboren als Tochter einer französischen Mutter und eines senegalesischen Vaters, gehört zu den bekanntesten Autorinnen des Landes. 2009 bekam sie den Prix Goncourt, den wichtigsten Literaturpreis Frankreichs – als erste schwarze Autorin.

Die eher unattraktive und unerfolgreiche Anwältin Maître Susane (ihren Vornamen erfahren wir nicht) ist die Heldin – oder besser Antiheldin – in diesem düsteren Plot. Eines Tages betritt ein Mann ihre Kanzlei in Bordeaux, Gilles Principaux, den die 42-Jährige aus ihrer Jugend zu kennen meint.

Eine Frau ermordet ihre eigenen Kinder

In ihrer Erinnerung kam sie einmal als Mädchen in sein großbürgerliches Elternhaus, wo er sie in sein Zimmer geführt hat. Dort ermutigte er sie, die aus bescheidenen Verhältnissen stammt, ihren Weg zu gehen, das zu werden, was sie heute ist.

Oder war es anders? Ist er ihr am Ende zu nahe gekommen? Die Erinnerung ist unzuverlässig, ein Vogel, der sich nicht fangen lässt. Principaux wiederum lässt nicht erkennen, dass er sich an eine frühere Begegnung erinnert. Stattdessen beauftragt er die Anwältin, seine Frau zu verteidigen: eine Mörderin, die die drei gemeinsamen kleinen Kinder zu Hause in der Badewanne ertränkt hat. Warum er gerade Maître Susane ausgewählt hat, die bislang mit keinen einzigen spektakulären Fall aufwarten kann, bleibt sein Geheimnis.

Schnell wird klar, dass er, trotz der entsetzlichen Tat, zu seiner Frau hält. Warum er das tut und offensichtlich wenig um seine Kinder trauert – auch das bleibt sein Geheimnis. Als Maître Susane die Kindesmörderin im Gefängnis besucht, wird sie mit vielen Ungereimtheiten konfrontiert. Einerseits war Marlyne die Vorzeigemutter, die alles für ihre Kinder getan hat. Andererseits vermisst sie ihre Kinder nach der Tat nicht, behauptet sie zumindest.

NDiaye erzählt unaufdringlich und hintergründig

In ihrer Ehe fühlte sie, die mal als Lehrerin gearbeitet hat, sich nicht wertgeschätzt, obwohl ihr Mann immer wieder beteuerte, sie zu lieben. Wer ist Marlyne? Eine gefühllose Autistin? Ein Monster? Oder eine massiv Gestörte, die so sehr unter Druck stand, dass sie zum Äußersten griff? Wie viel Verständnis lässt sich für diese moderne Medea aufbringen?

Marie NDiayes Roman ist ein vertracktes Labyrinth. Was ist hier Realität, was Täuschung? Wie weit stimmen Selbst- und Fremdwahrnehmung der Figuren überein?

Unsere Identität, so viel ist klar, ist ein Chamäleon, das uns ständig Streiche spielt, und am Ende steht, wie im Fall von Maître Susane, die große Erschöpfung. Denn die Anwältin hat die fatale Neigung, sich fast zwanghaft in aussichtslose Situationen zu verstricken, sich an Menschen zu fesseln, mit denen sie eigentlich nicht viel verbindet.

Immer tiefer lässt sie sich in den finsteren Fall des Kindermordes hineinziehen und kommt sich selbst dabei zunehmend abhanden.

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Auch in einem anderen Fall reibt die empfindsame Anwältin sich auf: Sie will für Sharon, ihre Haushaltshilfe aus Mauritius, die illegal mit ihrer Familie in Frankreich lebt, eine Aufenthaltsgenehmigung beschaffen. Allerdings fehlt der Anwältin ein entscheidendes Dokument, das die reservierte Sharon nicht rausrücken will oder kann.

Die Suche nach dem Dokument führt die Anwältin schließlich bis nach Mauritius.

Marie NDiaye erzählt unaufdringlich und hintergründig, nur manchmal verlieren sich ihre Figuren in langen Monologen, die etwas ermüdend sind und überambitioniert wirken. Ansonsten hält die Autorin ihren subtilen Ton (adäquat übersetzt von Claudia Kalscheuer), in dem, trotz des bedrückenden Sujets, immer wieder Humor aufblitzt.

NDiaye lässt Erwartungen ins Leere laufen

So sinniert Maître Susane zum Beispiel über die enge Beziehung, die sie mit ihren Eltern verbindet: „Sie liebte sie so sehr! So schmerzlich bisweilen!“ Gleichzeitig ist diese Liebe auch eine Belastung, wie die Autorin klug analysiert: Maître Susane „nahm es ihnen manchmal übel, zu den Menschen zu gehören, die man schonen, die man einfach deshalb, weil sie gut und empfindsam waren, vor allem Leid bewahren musste.“

So gaukelt die Tochter ihren Eltern beständig vor, eine erfolgreiche Anwältin zu sein – weil sie genau das hören wollen und stolz auf ihre Tochter, die soziale Aufsteigerin, sein möchten.

Marie NDiaye versteht es meisterhaft, Erwartungen ins Leere laufen zu lassen. Manche ihrer Figuren erscheinen wie entfernte Verwandte von Albert Camus' Meursault aus „Der Fremde“. Meursault bringt am Strand einen Araber um, sein Motiv ist unklar.

Auch in NDiayes Vorgänger „Die Chefin“ lässt sich die Hauptfigur, eine genialische, geheimnisvolle Sterne-Köchin, nur schwer zu fassen. Mit der Figur der ruhelosen Anwältin hat Marie NDiaye wieder so eine Eigenbrötlerin geschaffen, sympathisch und fragil, eine Grenzgängerin zwischen Engagement und Manie.

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