zum Hauptinhalt
Die Kritikerin und Übersetzerin Marie Luise Knott.

© privat

Marie Luise Knott mustert das Jahr 1930: Als die Welt abhanden kam

Die Kritikerin Marie Luise Knott schaut in ihrem Essay „Dazwischenzeiten“ durch die Augen von Bertolt Brecht, Paul Klee, Erwin Piscator und Karl Wolfskehl auf das Schicksalsjahr 1930.

In den Denkstuben der Weimarer Republik ging es offenbar hoch her. Walter Benjamin befürchtete sogar, das „Brandungsgeräusch“ seines Gesprächs mit Bertolt Brecht könnte überhört werden und informierte Theodor W. Adorno im November 1930 per Brief über die Vorbereitungstreffen für „Krisis und Kritik“. Die Zeitschrift sollte eine Literaturkritik ermöglichen, die nicht mehr nur ein „Sammelsurium des Geschmacksurteils“ ist, sondern als Analysewerkzeug auf dem Boden des Klassenkampfes taugt. Während aber Brecht locker in die Runde warf, ob man dem Intellektuellen eine neue Stellung verschaffen müsse, ging Benjamin an die Substanz und fragte: „Lohnt es sich zu denken?“

In vier nicht nur stilistisch glänzenden Essays betrachtet die Kritikerin und Übersetzerin Marie Luise Knott solche Momente des Jahres 1930. Im Zentrum ihres Bands „Dazwischenzeiten“ steht indes weniger das Schicksalsjahr, in dem die NSDAP zur zweitstärksten Fraktion im Reichstag avancierte und Deutschland zunehmend per Notverordnungen regiert wurde, als das von destruktiven Kräften vorangetriebene „Abhandenkommen von Welt“. In Gestalt von Erwin Piscator, Karl Wolfskehl, Bertolt Brecht und Paul Klee schaut Knott auf vier Künstler, deren Werk sich eindeutigen Lesarten entzieht. So sollte die von Brecht und Benjamin geplante Zeitschrift zunächst „Die Begrüßung der Krise“ heißen.

Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ist Knotts Leitmotiv

Gerade Brecht war überzeugt, dass in Krisenzeiten die kulturelle Produktion vorangetrieben werden müsse. Statt in Fantasiewelten zu flüchten, forderte er, sich der Verwirrung zu stellen. Unermüdlich erforschte er die Krise des Individuums. Da sein episches Theater immer weniger Gehör fand, entwickelte er 1930 die sogenannten Lehrstücke, bei denen die Zuschauer zu Mitwirkenden wurden und dabei lernen sollten, was Knott als „Fundament menschlichen Zusammenseins“ bezeichnet. Doch der Zusammenhalt hatte sich bereits aufgelöst. An die Stelle von Rousseaus „Bindung in Freiheit“ war Carl Schmitts Freund-Feind-Konstellation getreten. Auch bei Benjamin und Brecht finden Schmitts Begriffe Verwendung. Da Brecht jedoch stets der „Schalk des wahren Dialektikers“ im Nacken gesessen habe, verweist Knott zu Recht darauf, dass gerade bei ihm das Gesagte nicht immer das Gemeinte ist.

Mit dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft markiert Knott auch ein Leitmotiv ihrer eigenen Untersuchung. So stellt sie dar, wie der Bühnenrevolutionär Erwin Piscator mit seiner „Theatermaschine“ zwar die Massen formen wollte, den Einzelnen aber übersah. 1930 war Piscator nicht nur finanziell ruiniert, er musste auch erdulden, dass ihn der aufstrebende Joseph Goebbels zum Narren hielt. Auch deshalb fehlte ihm die Kraft, seine Kunst zu erneuern.

Schmerzliche Fragen an die künstlerische Moderne

Bei dem für seine Geselligkeit einst als „Zeus von Schwabing“ bekannten Schriftsteller Karl Wolfskehl wiederum war nicht nur die literarische Produktivität zurückgegangen. Zunehmend isoliert, spürte Wolfskehl, dass sein Projekt, „das Ferne ins Heute hereinzuholen“, nicht mehr zu verwirklichen war. Was ihm bis zu seiner Emigration 1933 blieb, war das, was Knott mit Hannah Arendt den entfernten und doch klaren „Blick eines jüdischen Paria“ auf die Umgebungsgesellschaft nennt. Paul Klee dagegen verließ 1930 endgültig das Bauhaus in Dessau und zerstörte mit der Spannung zwischen Fläche und Raum die Grundlage seiner bisherigen Malerei. Knott deutet diesen Schritt als Versuch, den Verfall der Gesellschaft ins Bild zu setzen.

Sie stellt schmerzliche Fragen an die künstlerische Moderne. Doch verabschiedet sie die Kunst nicht in eigene Sphären, sondern fordert sie auf, das Konstrukt des autonomen Individuums zu verteidigen. Dass dies in oft übersehenen „Dazwischenzeiten“ besonders wichtig ist, verdeutlicht sie anhand von Augenblicken, die dem Strom der Geschichte entrissen werden. Dieses Verfahren beruft sich auf Walter Benjamin – in der Hoffnung, dass sich ihm auch Momente des Erwachens abgewinnen lassen. Trotz mancher Ansätze fehlte 1930 aber genau hierfür die Kraft: Als die ersten Beiträge eintrafen, stieg Benjamin aus dem Projekt „Krisis und Kritik“ aus; die Zeitschrift sollte nie erscheinen. Das ist auch eine hochaktuelle Warnung.

Marie Luise Knott: Dazwischenzeiten. 1930. Wege in der Erschöpfung der Moderne. Matthes & Seitz, Berlin 2017. 192 Seiten, 20 €.

Moritz Reininghaus

Zur Startseite