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Die niederländische Schriftstellerin Margriet de Moor.

© dpa

Margriet de Moors Novelle „Schlaflose Nacht“: Die Grenze zwischen Jetzt und Damals

Gedankensplitter, Bilder, Gerüche: In Margriet de Moors Novelle „Schlaflose Nacht“ begibt sich eine Frau auf Wanderung durch ihre Erinnerungen und Wahrnehmungen.

Manchmal drehen sich die Gedanken im Kreis. Die Wahrnehmungskraft lässt nach, die Vorstellungen beginnen ihre Arbeit, „hartnäckig, wie Ameisen, die mit monströsem Eifer ein Stück Wespe oder ein Stückchen Stroh in ihre geheime Behausung schleppen“. Die niederländische Autorin Margriet de Moor hat eine Vorliebe für solche Suchbewegungen. Gedankensplitter, Bilder oder Gerüche – an den Kleinigkeiten entzündet sich die poetische Imagination. Auch in ihrer Novelle „Schlaflose Nacht“ schickt sie ihre Erzählerin auf die Reise. Wobei das Terrain für die Wanderung die eigene Wohnung ist. Dort dreht sie eine Nacht lang ihre Runden, läuft zwischen Küche und Wohnzimmer hin und her, während oben unter dem Dach ein fremder Mann schläft.

Die eigentliche Wanderung aber findet im Kopf der Erzählerin statt: 13 Jahre zuvor hat sich Ton, ihr Mann, nach wenigen Monaten Ehe das Leben genommen. Eines Morgens ging er hinter das große Gewächshaus und schoss sich mit einer Pistole in den Kopf. Nicht einmal ein Abschiedsbrief existiert; sie weiß nicht, warum Ton sich getötet hat. Nach einer Zeit der Stille beginnt für die Erzählerin das, was sie nur „meine Obsession“ nennt. Immer wieder tastet sie den Momenten ihrer kurzen Ehe nach. Wer war ihr Mann? Fast wie im Wahn durchsucht sie seine Kleidung, öffnet Taschen und Schränke, breitet alle Funde auf dem Boden aus.

Das Geheimnis in den Dingen

„Du kümmerst dich um die Fakten“ sagt die Erzählerin zu einem Mann, einem der vielen Unbekannten, mit denen sie sich trifft, um zu reden oder eine unverbindliche Nacht zu verbringen. So wie der Mann in seiner Rolle als Historiker Daten sammelt, sichtet die Erzählerin ihre Funde. Kinokarten, Münzen, Fotos, Kalender – das Geheimnis scheint in den Dingen zu liegen. Und so, wie die Dinge von ihr Besitz ergreifen, leben de Moors Sätze von Wahrnehmungsdetails.

Aber das ist nur die eine Seite des Buches. All die Szenen sind eingelassen in die Denk- und Erinnerungsbewegung der Erzählerin. „Nicht gleich damit herausrücken“, heißt es während eines Spaziergangs durch den Wald. Das gilt erst recht für de Moors Schreiben. Entscheidendes wird oft nicht gesagt, vielmehr in Bilder, Gedanken oder Beobachtungen eingelagert. Und damit der Sphäre der sogenannten „Fakten“ entzogen. Zugleich verwischt de Moor die Grenzen zwischen den Zeitschichten. Als Leser durchlebt man die Suchbewegung selbst und muss sich sein Bild immer wieder neu zusammensetzen. Schade nur, dass de Moor am Ende einige der Lücken schließt, die sie vorher so geschickt gesetzt hat.

Bessere Übersetzung

„Schlaflose Nacht“ erschien erstmals 1989 in einem Novellenband (auf Deutsch 1994 unter dem Titel „Auf den ersten Blick“ in dem Band „Doppelporträt“). Für die nun vorliegende Neuausgabe hat de Moor den Text bearbeitet. Ein Vergleich der Ausgaben zeigt: kein Raymond-Carver-Syndrom! Carvers Lektor hatte einige Erzählungen des Amerikaners um fast die Hälfte gekürzt.

Margriet de Moor indes hat als ihre eigene Lektorin nur eine längere Passage gestrichen. Ansonsten hat sie einige Formulierungen geändert, hier einen Abschnitt umgebaut, dort einen kommentierenden Satz hinzugefügt – nicht immer zum Besten des Textes. Helga van Beuningens Neuübersetzung ist etwas geschmeidiger als die Übersetzung von Rotraud Keller, in der man bisweilen über tautologische Formulierungen („erstes Kennenlernen“) oder antiquiert klingende Wörter („Füllen“ statt „Fohlen“) stolpert. Margriet de Moors Gespür für Verschiebungen freilich zeigt sich in beiden Ausgaben: „Eine leichte Verzerrung, und die Dinge werden fremd.“

Margriet de Moor: Schlaflose Nacht. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Carl Hanser Verlag, München 2016. 127 S., 16 €.

Nico Bleutge

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