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Ikone des Widerspruchsgeists: Ihre Miss Marple wurde ein Weltstar. Margaret Rutherford in "Vier Frauen und ein Mord".

© Cinetext

Margaret Rutherford: Aufklären und Tee trinken

Miss Marple oder die Kunst, sich unterschätzen zu lassen: Wie Schauspielerin Margaret Rutherford sich vor 50 Jahren für die Rolle ihres Lebens entschied.

Nächtelang diskutierte die britische Theaterlegende Margaret Rutherford mit ihrem Ehemann Stringer Davis und der Adoptivtochter Dawn Simmons, ob sie die Rolle übernehmen sollte. Meistens bei Rühreiern und gebratenem Schinken diskutierte die Familie über Miss Marple. Alles Kriminalistische war der Schauspielerin nicht geheuer, mehr noch, sie verabscheute jeden Gedanken an Gewalt. Gartenpartys waren schon eher ihre Sache, Plaudereien auf dem Oberdeck der Londoner Busse. Und wenn er interessant genug war, empfing sie auch mal einen Schimpansen zum Tee.

Margaret Rutherford musste beruhigt werden. Miss Marple sei eine Streitkraft der Tugend. Das Drehbuch von moralischem Wert. An Weihnachten vor 50 Jahren – ihr Ehemann kochte in der Küche gerade einen Truthahn – sagte die 68-jährige Schauspielerin, die sich am Telefon mit „Fräulein“ Rutherford meldete, für die Rolle der Miss Marple endlich zu. George Pollock, der Regisseur, war außer sich vor Freude. Wie sich später herausstellen sollte, hatte er sich zu Recht gefreut. Nie war er erfolgreicher als mit dieser Hauptdarstellerin. Mochte die Qualität der Drehbücher nach dem eindrucksvollen Auftakt mit „16 Uhr 50 ab Paddington“ auch bröckeln und die Presse auf die vier zwischen 1961 und 1964 von MGM produzierten und den Romanen Agatha Christies lose bis gar nicht folgenden Kriminalfilmen zunehmend gönnerhaft reagieren: Margaret Rutherford blieb unberührt von jeder Zugluft der Kritik.

Ihre Miss Marple wurde ein Weltstar, der Inbegriff der kriminalistischen Idylle. Eine Ikone des Eigensinns, der die Zuversicht wie Plätzchenduft in den Kleidern hing. Ihr Publikum liebte sie, wie Kinder eine versponnene Tante lieben. Es war anhänglich und dankbar für jede Schrulle. Miss Marple würde das Problem, würde den Fall schon lösen. Sie würde ihr gewaltiges Kinn nach vorne schieben, die Lippen schürzen, dazu gäbe es eine Tasse guten Tee. Es war wie immer, wenn es ein bisschen zu gemütlich wird: Man gerät in Gefahr, es sich leicht zu machen, erst Recht im Umgang mit unverheirateten älteren Damen. Miss Marple wurde von ihren Gegnern unterschätzt, ihr Sieg meist übersehen.

Die entscheidende Szene kommt gleich zu Beginn. Sie hat einen Mord beobachtet, der Inspektor glaubt ihr nicht. Miss Marple verwechsle das Liebesspiel zweier frisch Verheirateter mit einem Würgegriff. Miss Marple ist empört über das Vorurteil, demzufolge alte Jungfern sich gerne mal etwas einbilden. Für einmal gerät ihr Selbstverständnis ins Wanken. Sie eilt in die Leihbibliothek, auf der Suche nach Gewissheit.

Es ist ein seltsamer, intimer Augenblick, dort zwischen den Büchern. Ein Moment, der die Grenze der Rolle mit zärtlichem Furor überschreitet. Miss Marple teilt ihn mit ihrem Freund Mister Stringer, die Schauspielerin Margaret Rutherford mit ihrem Ehemann, der Mister Stringer spielt. Die Frage duldet keinen Aufschub. „Mr. Stringer, do you believe I’m an unstable woman?“

Die Angst davor, verrückt zu werden, hat Margaret Rutherford Zeit ihres Lebens verfolgt. Sie hat keinen Hehl daraus gemacht, ihre Depressionen und Erschöpfungszustände als extremste Form der Verlassenheit beschrieben, als ihr Familienerbe, dem zu entkommen ihr nie ganz gelang. „Arbeit kann helfen“, sagte sie einmal einem Reporter der „New York Times“. „Aber die Psychiatrie hat mich gerettet.“

Es ist ihre eigene Familiengeschichte, die um das Thema Gewalt kreist. In einer Nacht des Jahres 1883 erschlug ihr Vater William Rutherford seinen Vater mit einem Nachttopf. Man klagte ihn des Mordes an, sperrte ihn in ein Asyl für „kriminelle Geisteskranke“. Später lebte er mit seiner Familie in der Obhut des Bruders und versuchte vergeblich, in Indien die Vergangenheit abzuschütteln. Seine sechsjährige Tochter Margaret besaß in Indien ein Pony. „Ich frage mich, was aus meinem Pony geworden ist“, bemerkte sie als alte Dame. Die Wehmut und Diskretion, die in dieser Erinnerung steckt, lässt sich erahnen, wenn man bedenkt, dass Margarets Mutter sich damals, während einer zweiten Schwangerschaft, mit einem Strick das Leben nahm.

Es mag ein Zufall sein. Ein flüchtiges Indiz nur, aber Miss Marple besteht ja selbst ständig auf Kleinigkeiten: In „Der Wachsblumenstrauß“, dem zweiten der vier Miss-Marple-Filme, macht sie eine Bemerkung über die Mutter, ausgerechnet in Bezug auf den Reitsport. Einen kostbaren Sattel hat Miss Marple von ihrer Mutter geerbt, die Tochter lässt sich dafür bewundern, sie, die Nachfahrin einer stolzen Reiterin. Wie vieles in den Miss-Marple-Filmen kann man auch dieses Detail als Trost verstehen, als fantastischer Zauberspruch zur Linderung alter Wunden.

Margaret Rutherford hat ihre Miss Marple mit Widerspruchsgeist ausgestattet. Und mit der Kraft, ihn zu leben. Es fehlt an nichts. Weder an Geld, noch an Gesundheit. Hatte ihr literarisches Vorbild ein ehemaliges Hausmädchen auf kriminalistische Recherche schicken müssen, weil die eigenen Kräfte für die Ermittlungsarbeit nicht genügten, ist Rutherfords Miss Marple in unverschämt guter Verfassung. Overdressed muss man diese alte Dame nennen. Hochbegabt.

Nicht nur, dass sie es im Golfspielen, Reiten, Pistolenschießen und Degenfechten zur Meisterschaft gebracht hat. Eine exzessive Leserin ist sie, das zuallererst. Eine gute Köchin. Sie spricht Französisch, trinkt gern Champagner und erinnert sich beim Durchführen chemischer Experimente ihrer Lateinlehrerin. Außerdem erweist sie sich als schauspielerisch nicht unbegabt. Die Liste ließe sich fortsetzen und um Heiratsanträge sowie andere Raffinessen ergänzen. Etwa um das Detail, dass Miss Marple sich umzuziehen pflegt, zum Tee in der eigenen Stube.

Obendrein leistet sie die großartige Korrektur einer sozialen Rolle. Miss Marple grämt sich nicht, sie denkt und genießt. Ihre „Alte Jungfer“ die in ihren bürgerlichen Umrissen dem viktorianischen 19. Jahrhundert entstammt, ist lebenshungrig und wissbegierig. Nicht die Vereinsamte, Vertrocknete, Ausgeschlossene, die das Grau der Verbitterung zu tragen gewohnt ist. Bei ihrer Erfinderin Agatha Christie hatte Miss Marple übrigens noch Anteile an jenem Grau, an jenem typischen Hang zum Schwatzhaften und Gebrechlichen, der unverheirateten ältlichen Damen zugeschrieben wurde. Margaret Rutherford übermalt die Figur mit kräftigen Farben, selbst auf die Gefahr der Vereinfachung hin.

Agatha Christie hat genau das beklagt. Die Interpretation von „16 Uhr 50 ab Paddington“ fand sie „anspruchslos“ und die drei nachfolgenden Filme „unglaublich dumm“. An ihrer Anerkennung für Margaret Rutherford, der sie einen ihrer späteren Romane „in Bewunderung“ widmete, hat das jedoch nichts geändert.

Als „scene stealer“ hat man Margaret Rutherford beschrieben. Als eine, die die Aufmerksamkeit selbst dann auf sich zieht, wenn sie im Hintergrund einer Szene agiert. In der Rolle der Miss Marple trug sie ihre eigenen Kleider. Ihre Capes, ihre Schals und den Rock, über die ein englischer Journalist einmal bemerkte, dass er von „undefinierbarer Länge“ sei. Auch ihre Schuhe brachte die Schauspielerin zu den Dreharbeiten mit. Bequeme Schuhe, die für einen sicheren Schritt taugen, für die Jagd nach Mördern und nach dem Glück.

Talent dafür hatte sie. Ein wunderbar verschrobenes wie ihre Miss Marple. Als junge Frau fuhr Margaret Rutherford mit dem Fahrrad durch Wimbledon, sang und rezitierte Verse. Sie verdiente den Lebensunterhalt für sich und ihre Tante Bessie mit Klavierstunden und nahm privaten Schauspielunterricht. Liebe und Erotik soll es lange Zeit nicht gegeben haben, nicht einmal die Ahnung davon. 33 Jahre ist Margaret alt, als sie sich nach dem Tod der Tante ernsthaft um Erfahrungen am Theater bemüht. Sie erlebt peinliche Vorsprechen, bei der sie das falsche, viel zu gewagte Kleid trägt und zum ersten Mal Lippenstift ausprobiert.

In London und Oxford spielt sie Repertoire, ihre Auftritte im Globe Theater unter John Gielgud oder bei Peter Brooks, ihre Zusammenarbeit mit Orson Welles und Charlie Chaplin liegen da noch in ferner Zukunft. 38 Jahre ist sie alt, als sie sich zum ersten Mal verliebt. Ein attraktiver, junger Schauspieler kommt ihr aus dem Theater in Oxford entgegen. Sie habe ihre Augen nicht von ihm lassen können, wird sie später sagen. Und dass sie ihre privaten Gefühle für diesen Stringer Davis habe verstecken wollen.

Auch diese Spur führt zu einem seltsamen Sieg. Man hat über die Beziehung zwischen dem späten Mädchen Margaret und dem homosexuellen Schauspieler gerätselt, hat sich lustig gemacht über seine Nebenrolle als Mr. Stringer, seine Fürsorglichkeit, über das Stenografieren, das er erlernte, um die Fanpost seiner Frau beantworten zu können, und über die Eheschließung, bei der die Braut 53 Jahre alt war, nach ihrem eigenen Empfinden zu alt für eine Hochzeit in Weiß. Sie heiratete in einem cremefarbenen Kleid und trank den Tee, wie immer bei besonderen Familienangelegenheiten, aus Tassen königlichen Porzellans des frühen 19. Jahrhunderts. Unzertrennlich sollen sie und ihr Mann gewesen sein. Verliebt auf eine Weise, die nicht passt in eine Welt, in der alten Jungfern nichts anderes zusteht als der Verzicht.

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