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Poetische Wahrnehmungen, Naturbetrachtungen, darum geht es in Volker Sielaffs Journal „Überall Welt“. Hier ein Buchenwald in der Nähe von Sassnitz auf Rügen.

© Jens Büttner/dpa-Zentralbild/dpa

Lyrik von Volker Sielaff: Das Dunkeln der Stämme am Abend

Poetische Schwebezustände: Volker Sielaff schaut in seinem lyrischen Tagebuch „Überall Welt“ auf die Natur, frei von zielgerichtetem Erkenntnisinteresse.

Eine Aufzeichnung“, so hat einmal Hans Bender, der Meister der literarischen Kurzformen, seine Lieblingsgattung definiert, „soll die Konzentration eines Gedichtes erzielen, ohne dessen Stilgebärde, dessen Angestrengtheit oder dessen Schmuck. Die eigene Stimme soll aus der Aufzeichnung sprechen, die Erfahrung, der Gedanke, die Einsicht.“ Der 1966 geborene Lyriker Volker Sielaff hat sich nun diese Arbeitsmaxime Benders zu eigen gemacht und nach drei Gedichtbänden ein intimes Journal mit sorgsam komponierten Notaten vorgelegt, kleine Offenbarungsaugenblicke, Erkenntnisblitze und Halbschlafbilder aus zehn Jahren.

Unter dem euphorisch klingenden Titel „Überall Welt“ versammelt der in Dresden lebende Sielaff jene Augenblicke poetischer Wahrnehmung, die frei sein wollen von den Zerstreutheiten eines medial determinierten Blicks, frei auch von einem zielgerichteten Erkenntnisinteresse. Kultiviert wird hier das „absichtslose Schauen“ auf die Welt, das träumerische Nachsinnen über die Phänomene der Natur, unter Vermeidung jeder sprachlichen Prätention. Als „Lichtschreiber“ des Einfachen registriert Sielaff im Amselgesang und der Stille eines Sommertags den Vorschein eines paradiesischen Zustandes.

Am Ausgangspunkt steht eine Reise in den Süden

Die Nähe dieses Konzepts zu den kontemplativen Journalen Peter Handkes ist nicht zu übersehen. Denn hier geht es darum, im innigen Hingegebensein an die Dinge „das Gewicht der Welt“ aufzuheben. „Das Zirpen der Grillen im hohen Gras“ wird zum „Weltklang“, der Flug der Mauersegler und das „Dunkeln der Baumstämme am Abend“ zur Signatur des Wunderbaren der Schöpfung. „Die fehlende Endgültigkeit macht das Denken freundlich“, zitiert Sielaff den Philosophen Byung-Chul Han – und markiert damit auch sein Programm der punktuellen Wahrnehmung, die Architektur von poetischen Schwebezuständen.

Am Ausgangspunkt steht eine Reise in den Süden, das Erwachen der Sinne aus ihrer Betäubung und beglückende Epiphanien bei der Selbstbeobachtung. Die Notate sind dabei – wie bei Handke – eng verknüpft mit der Entwicklungsgeschichte eines Kindes. Ein Jahrzehnt lang beobachtet der Verfasser „das Kind“ und sein Heranwachsen, der kindliche Modus des Staunens erscheint ihm als Zustand poetischer Initiation. Nicht immer übertragen sich dabei die mystischen Augenblicke des Journalschreibers auf den Leser. Beim Lesen erfasst einen aber immer wieder die Sehnsucht nach der Erfahrung der Schönheit, die in Sielaffs lyrischer Prosa anwesend ist wie in Mörikes berühmtem Gedicht „Auf eine Lampe“: „Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst.“

Volker Sielaff: Überall Welt. Journal. Edition Azur, Dresden 2017. 152 Seiten, 19,90 €.

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