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Olaf Scholz beißt in eine Bratwurst.

© Julian Stratenschulte/dpa

Luther, Goethe und Thüringer Grillgut: Für die deutsche Leitkultur geht es um die Wurst

Merkel lässt Soldaten Schlager spielen, Rapper aus Zuwandererfamilien dominieren die Jahrescharts. Doch die deutsche Kultur wird im Darm gerettet. Eine Glosse.

Was geht denn mit Dir ab, deutsche Leitkultur? Jetzt ist also auch die scheidende Kanzlerin der Bundesrepublik endgültig in der postmodernen Beliebigkeit angekommen. „Großer Gott, wir loben dich“ von Ignaz Franz, „Für mich soll’s rote Rosen regnen“ von Hildegard Knef und „Du hast den Farbfilm vergessen“ von Nina Hagen? Eine „random playlist“ würde man heute zu Merkels Liederauswahl beim Großen Zapfenstreich in der zurückliegenden Woche sagen, falls man besonders cringe klingen will.

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Da marschierten Bundeswehrsoldaten mit Stahlhelmen, Gewehren und Fackeln auf, um ein ökumenisches Kirchenlied, eine schwule Hymne und den bekanntesten Song der deutschen „Godmother of Punk“ zu spielen. Auf Twitter ätzten Beobachter, dass die Kanzlerin nicht mal im Moment ihres Abschieds die deutsche Kultur würdevoll zu vertreten wisse: „Spielt doch bitte zu Merkels Zapfenstreich am Donnerstag in brutaler Lautstärke die Nationalhymne! Ich will die Alte zittern sehen.“

Deutschquote im Radio hilft da nicht

Kulturkonservative Deutschtümler mussten dann auch doppelt tapfer sein. Am selben Tage veröffentlichte der Streamingdienst Spotify die Auswertung der hierzulande meistgespielten Künstler*innen des Jahres: Bonez MC, Luciano, Capital Bra, RAF Camora, Samra, Apache 207, Ufo 361. Alles Rapper, die meisten Kinder aus Zuwandererfamilien. Da hilft nicht einmal der altbekannte Ruf nach der Deutschquote im Radio.

Zum Glück gibt es sie aber noch, die Institutionen, die das Wissen darüber bewahren, wo die unverfälschte, genuin deutsche Kultur fortlebt: im Darm. Es ist das Fleischerhandwerk. Seit Jahrhunderten sind die traditionellen Rezepte der Thüringer Rostbratwurst unverändert und längst in akkurate Normvorgaben der EU geronnen.

Auch Gartenzwerge aus Gräfenroda sind im Rennen

Mittelfeines Brät im Naturdarm. 15 bis 20 Zentimeter lang. 100 bis 150 Gramm schwer. 2023 schon könnte die Spezialität immaterielles Unesco-Kulturerbe werden. Sie ist einer von acht Vorschlägen aus Thüringen, die bei der Bewerbung um die Aufnahme in das bundesweite Verzeichnis eingereicht worden. Gleich neben anderen zivilisatorischen Errungenschaften wie der Gartenzwergherstellung in Gräfenroda, der Erfurter Brunnenkresse und dem Taubenmarkt in Dermbach.

Das Reinheitsgebot für die Thüringer Bratwurst ist deutlich älter als das legendäre deutsche Reinheitsgebot für Bier. Schon der große Reformator Martin Luther und unser Dichterfürst Johann Wolfgang von Goethe bissen verzückt in die knusprig gebräunte Haut.

Schlichtes ideologisch-germanisches Stammesbewusstsein

Und doch: Aller nationaler Selbstbeweihräucherung zum Trotz ist selbst die Thüringer Rostbratwurst ein gutes Beispiel dafür, dass der Wunsch nach einer einheitlichen deutschen Kultur schlichtes ideologisch-germanisches Stammesbewusstsein widerspiegelt. So hat die Wurst in Ostthüringen eine deutliche Kümmelnote, in Nordthüringen ist dagegen Majoran das bestimmende Gewürz, und in Mittelthüringen sorgt Knoblauch für das gewisse Extra.

Wer die lange Zeit des Wartens bis zur Entscheidung in zwei Jahren musikalisch überbrücken möchte, dem sei die inoffizielle Kulturerbe-Hymne „Bratwurstzange“ des Sängers Rummelsnuff ans Herz gelegt: „Wir drehen die Wurst genügend lange / Wir brauchen keine Bratwurstzange / Männer hier im Thüringer Land / Wenden scheulos mit der Hand.“

Sollte derweil das Wurst-Case-Szenario eintreten und die Ampelkoalition früher platzen als die Thüringer auf dem Grill, wäre das Lied sicher auch ein heißer Kandidat für den Zapfenstreich des bekennenden Bratwurstfans Olaf Scholz.

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