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Die Zuversicht einen Tag vor den Wahlen.in Belarus am 9. August. Weronika Zepkalo (vorne links), Ehefrau des nicht-registrierten Kandidaten Zepkalo, Swetlana Tichanowskaja, Kandidatin der Opposition bei den Präsidentschaftswahlen in Belarus, und Maria Kolesnikowa, Wahlkampfmanagerin des von der Wahl ausgeschlossenen Bankiers Babariko, winken bei einem Treffen von Tichanowskajas Unterstützern.

© dpa / Sergei Grits

Lukaschenko-Dämmerung: Aufstand der Frauen

23 Autorinnen aus Belarus geben Auskunft zur prekären Lage im Land.

Ich habe Schiss. Und wie. Aber ich weiß, ich kann nicht NICHT hingehen. Verstehst Du? Meine Kinder schmieren mir morgens ein Brot und sagen: Mama, nimm mit, falls Du heute Abend nicht nach Hause zurückkommst. Ich frage euch, ist das normal?“

Kürzer als in diesen Sätzen, die die 39-jährige Marina Naprushkina notiert hat, lässt sich das Geschehen in Belarus nicht zusammenfassen. Ein über drei Jahrzehnte fast übersehenes Volk ist aus seiner Starre erwacht. Die Unsichtbaren werden sichtbar, weil sie sich gegen ihren Herrscher erheben.

Sie haben die Wahl gegen den Präsidenten Lukaschenko gewonnen, doch Tyrannen kann man nicht abwählen, man muss sie stürzen. Genau das versuchen die Belarussen seit dem Sommer. Immer wieder gehen sie auf die Straße, immer wieder werden sie von maskierten Sicherheitskräften zurückgeschlagen. Das Bollwerk der finsteren Macht in Minsk wankt, doch es hält.

Aktuelles aus weiblicher Perspektive

Der Berliner Verlag FotoTapeta hat sich in den letzten Jahren um junge osteuropäische Autoren sehr verdient gemacht. „Belarus! Das weibliche Gesicht der Revolution“ setzt das mit höchster Aktualität und aus rein weiblicher Perspektive fort. Denn der Aufstand gegen Lukaschenko ist noch in vollem Gange. „Vielleicht ist es zu früh zum Schreiben“, mutmaßt eine der 23 Autorinnen des Bandes.

{Andreas Rostek, Thomas Weiler u.a. (Hg.): Belarus! Das weibliche Gesicht der Revolution. Edition FotoTapeta, Berlin 2020. 272 Seiten, 15 €.]

Bleibt man in der Symbolik der Farbenrevolutionen, ist dies die weiße Revolution. Frauen in Weiß – viele mit Blumen in der Hand – treffen auf eine Wand von schwarzen Cyborgs. Sie schaffen ein Gegenbild zum jämmerlichen Machismo eines Alexander Lukaschenko, der von sich behauptet, die Last, die er trage, könne gar keine Frau tragen.

Iryna Herasimovich erläutert die lange Tradition eines solchen Denkens. Und Olga Dryndova erklärt, dass diese weibliche Revolution „ursprünglich nicht als solche geplant war, und es wäre auch falsch, sie jetzt darauf zu verkürzen“. Dennoch sei richtig, das das weibliche Gesicht des Widerstandes der entscheidende Faktor sei: eine Auflehnung gegen Lukaschenkos Patriarchat.

Medialer Zerrspiegel?

„Die Revolution hat kein weibliches Gesicht“, hält dem Irina Solomatina entgegen. „Weder patriarchalische Mythen noch geschlechterspezifische Vorurteile sind ins Wanken geraten.“ Die Frauen an der Spitze der Forderungen nach einem Wandel seien „nur“ an die Stelle ihrer Männer getreten, die Lukaschenko aus dem Verkehr gezogen hat. Ihre Rollenbilder seien männliche Rollenbilder. „Das weibliche Gesicht des Protests ist vor allem ein medialer Effekt“, behauptet Solomatina. Die Eroberung von Schlagzeilen aber sei kein politischer Sieg.

Die Philosophin Olga Shparaga gibt zu, tatsächlich gebe es ein „Element der Performance“, aber „wie riskant das alles ist, weil es mit dem Risiko körperlicher Gewalt einhergeht“. Shparaga versucht zu erklären, warum gerade Swetlana Tichanowskaja in dem Frauentrio an der Spitze der Opposition zur zentralen Figur wurde. Weniger Maria Kolesnikowa, die aktive Feministin, die jetzt im Gefängnis sitzt, und auch nicht die erfolgreiche Managerin Veronika Zepkalo.

Soziale Selbstüberwindung

Beide wären nicht mehrheitsfähig gewesen. Tichanowskaja sei das Symbol für eine soziale Selbstüberwindung. „Ich glaube“, sagt die Philosophin im Interview, „dass Swetlana Tichanowskaja immer noch ein Spiegel ist, in den die Gesellschaft schaut und sich selbst sieht. Sie sagt: Wir sind keine Politiker, aber wir können nicht tatenlos bleiben, weil wir nicht im Autoritarismus leben wollen und können.“

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Vor mehr als vier Jahrzehnten hat der ungarische Autor György Konrád für diese Haltung den Begriff Antipolitik geprägt. Überhaupt scheint in dieser Sammlung 1989, das große Jahr der Umwälzungen mit all seinen Hoffnungen, immer wieder auf.

Im Fall von Belarus haben westliche Experten zuerst plausibel erklärt, warum es dort keine Farbenrevolution, nicht einmal einen Politikwechsel gegeben hat, ja, warum er in Minsk faktisch unmöglich ist. Jetzt sind diese Experten in Erklärungsnot. Aus ihr befreit uns dieses „Belarus!“-Buch – auch ohne die entscheidende Frage zu beantworten: Wann ist dieses furchtbare Regime endlich am Ende?

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